»Ob Deputy Gullickson wohl auch so denkt?«
Sheriff John grinste. »Ist nicht so einfach, die für sich einzunehmen, aber heute Nacht haben Sie schon einen großen Schritt getan.«
»Ehrlich? Und wenn ich ihr vorschlagen würde, mit mir mal essen zu gehen, was würde sie dann wohl sagen?«
»Ich glaube, sie wäre bereit, solange Sie nicht die Absicht haben, sie ins Bev’s auszuführen. Ein gut aussehendes Mädel wie sie erwartet wenigstens das Roundup in Dunning. Oder diesen mexikanischen Schuppen drüben in Hardeeville.«
»Danke für den Tipp.«
»Gern geschehen. Und denken Sie gut über mein Angebot nach.«
»Das werde ich.«
Was er auch tat. Er war immer noch damit beschäftigt, als in einer heißen Spätsommernacht die Hölle losbrach.
EIN KLUGER JUNGE
1
An einem schönen Aprilmorgen desselben Jahres – und damit ungefähr zu der Zeit, wo Tim Jamieson in DuPray eintraf – wurden Herbert und Eileen Ellis in Minneapolis ins Büro von Jim Greer geführt. Der war einer von drei Beratungslehrern an der Broderick-Schule für außergewöhnliche Kinder.
»Luke hat doch nichts angestellt, oder?«, fragte Eileen, als alle sich gesetzt hatten. »Jedenfalls hat er nichts Derartiges erzählt.«
»Ganz und gar nicht«, sagte Greer. Er war Mitte dreißig und hatte schüttere braune Haare und ein Gelehrtengesicht. Zu seinem lässig geknöpften Sporthemd trug er gebügelte Jeans. »Also, Sie wissen doch, wie es hier läuft, nicht wahr? Wie es angesichts der mentalen Fähigkeiten unserer Schüler laufen muss. Die werden beurteilt, aber nicht mit Noten. Das geht nicht anders. Wir haben Zehnjährige mit leichtem Autismus, die mathematisch auf Highschoolniveau sind, aber dafür Lesefähigkeiten wie ein Drittklässler haben. Wir haben Schüler, die vier Fremdsprachen beherrschen, aber Probleme beim Multiplizieren von Brüchen haben. Wir unterrichten sie in allen Fächern, und neunzig Prozent wohnen in unserem Internat – weil sie aus allen Teilen der Vereinigten Staaten kommen, etwa ein Dutzend sogar aus dem Ausland–, aber wir richten unsere Aufmerksamkeit auf ihre speziellen Talente, egal worin die bestehen. Daher ist das althergebrachte System, das vom Kindergarten geradlinig zur zwölften Klasse führt, für uns ziemlich nutzlos.«
»Das ist uns bewusst«, sagte Herb. »Und wir wissen auch, dass Luke ein kluger Junge ist. Deshalb ist er ja hier.« Weil Greer das sicher wusste, fügte er nicht hinzu, dass sie sich die astronomischen Gebühren der Schule nie hätten leisten können. Herb war Vorarbeiter in einer Fabrik, die Pappkartons herstellte; Eileen war Lehrerin an einer Grundschule. Luke gehörte zu den wenigen Schülern hier, die nicht im Internat wohnten, und zu den sehr wenigen, die ein Stipendium bekamen.
»Klug? Das ist leicht untertrieben.«
Greer blickte in einen Aktenordner, der aufgeschlagen auf seinem sonst leeren Schreibtisch lag, wobei Eileen eine plötzliche Vorahnung überkam: Entweder würde man die beiden bitten, ihren Sohn abzumelden, oder man würde ihm das Stipendium streichen – wodurch eine Abmeldung unvermeidbar wäre. Die Schulgebühren beliefen sich auf jährlich etwa vierzigtausend Dollar und waren damit ungefähr so hoch wie in Harvard. Bestimmt würde Greer jetzt gleich erklären, man habe einen Fehler gemacht und Luke sei doch nicht so helle, wie sie alle geglaubt hätten. Er sei ein ganz gewöhnlicher Junge, dessen Lektüre lediglich weit über sein Altersniveau hinausgehe und der sich offenbar alles perfekt einprägen könne. Eileen hatte irgendwo gelesen, dass ein eidetisches Gedächtnis bei Kindern nicht so ungewöhnlich war; etwa zehn bis fünfzehn Prozent besaßen die Fähigkeit, sich an fast alles zu erinnern. Allerdings verschwand das Talent normalerweise am Beginn der Pubertät, und Luke näherte sich diesem Punkt.
Greer lächelte. »Lassen Sie mich Klartext reden. Wir sind stolz darauf, Kinder mit außergewöhnlichen Begabungen zu unterrichten, aber einen Schüler wie Luke haben wir hier noch nie gehabt. Einer von unseren eigentlich im Ruhestand befindlichen Kollegen – Mr. Flint, der jetzt schon über achtzig ist – hat es auf sich genommen, Luke Einzelunterricht über die Geschichte des Balkans zu geben, ein komplexes Thema, an dem man viel über die derzeitige geopolitische Lage lernen kann. Behauptet jedenfalls Flint. Nach der ersten Woche ist er zu mir gekommen und hat gesagt, mit Ihrem Sohn erlebe er dasselbe wie die Schriftgelehrten, die Jesus mit den Worten zurechtweist, nicht was in ihren Mund hineingehe, mache sie unrein, sondern das, was herauskomme.«
»Jetzt kenne ich mich wirklich nicht mehr aus«, sagte Herb.
»So ist es Billy Flint auch gegangen. Darauf will ich ja hinaus.« Greer beugte sich vor. »Hören Sie mir bitte gut zu. Luke hat in einer einzigen Woche den Stoff eines extrem schwierigen Universitätsseminars bewältigt und viele der Schlüsse gezogen, zu denen Flint ihn bringen wollte, sobald er ihm das nötige historische Grundwissen vermittelt hätte. Bei manchen dieser Schlüsse hat Luke sehr überzeugend behauptet, es handle sich um überliefertes Wissen und nicht um eigenständige Gedanken. Was er laut Flint ausgesprochen höflich vorgebracht hat. Beinahe entschuldigend.«
»Ich weiß nicht recht, was ich dazu sagen soll«, sagte Herb. »Luke spricht nicht viel über das, was er in der Schule lernt, weil er meint, das würden wir doch nicht verstehen.«
»Was ja mehr oder weniger stimmt«, sagte Eileen. »Früher habe ich zwar mal gewusst, was der binomische Lehrsatz besagt, aber das ist lange her.«
»Wenn Luke nach Hause kommt, verhält er sich wie jeder andere Junge«, ergänzte Herb. »Sobald er seine Hausaufgaben erledigt hat und das, was wir ihm aufgetragen haben, setzt er sich an seine X-Box oder spielt in der Einfahrt mit seinem Freund Rolf Basketball. Außerdem sieht er sich immer noch SpongeBob Schwammkopf an.« Er überlegte einen Moment. »Dabei hat er allerdings meistens ein Buch auf dem Schoß.«
Stimmt, dachte Eileen. In letzter Zeit waren es die Grundlagen der Soziologie. Vorher etwas von William James, davor das Blaue Buch der Anonymen Alkoholiker und davor sämtliche Werke von Cormac McCarthy. Er las so, wie Kühe auf der Wiese grasten – einfach da weiter, wo das Gras am grünsten war. Was ihr Mann so merkwürdig fand, dass es ihm Angst machte, weshalb er es lieber ignorierte. Ihr machte es auch Angst, was wahrscheinlich der Grund war, dass sie nichts von Lukes Privatseminar über die Geschichte des Balkans wusste. Er hatte es ihr nicht erzählt, weil sie nicht danach gefragt hatte.
»Wir haben viele Wunderkinder hier«, sagte Greer. »Ich würde sogar mehr als fünfzig Prozent unserer Schüler so klassifizieren. Aber die haben alle ihre Spezialbegabung. Luke ist anders, weil er global ist. Er ist nicht in einem bestimmten Gebiet hochbegabt, sondern in allem. Ich glaube zwar nicht, dass er je professionell Baseball oder Basketball spielen wird…«
»Wenn er nach meiner Familie kommt, wird er für Basketball nicht groß genug«, sagte Herb grinsend. »Falls er sich nicht zum nächsten Spud Webb entwickeln sollte.«
»Sei still!«, sagte Eileen.
»Aber er spielt beides mit Begeisterung«, fuhr Greer fort. »Er hat Freude daran und hält es nicht für verlorene Zeit. In Leichtathletik stellt er sich auch ganz gut an. Er kommt gut mit seinen Kameraden aus, ist kein bisschen introvertiert oder emotional dysfunktional. So gesehen ist Luke ein gemäßigt cooler amerikanischer Junge, der T-Shirts von irgendwelchen Rockbands trägt und seine Baseballcap mit dem Schirm nach hinten aufsetzt. In einer gewöhnlichen Schule wäre er womöglich nicht so cool – da würde der Alltagstrott ihn wohl zum Wahnsinn treiben–, aber ich glaube, dass er selbst dort durchkäme; er würde seine Studien dann einfach alleine treiben.« Hastig fügte er hinzu: »Nicht dass Sie das ausprobieren sollten!«