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Etwas fällt um und weckt mich auf. Das muss der Pokal sein, den wir im Baseball gewonnen haben, der ist nämlich ziemlich groß und macht allerhand Lärm. Jemand beugt sich über mich. Ich sage: »Mama?«, obwohl ich weiß, dass es jemand anderes ist, aber es ist eine Frau, und Mama ist das erste Wort, das mir in mein schläfriges Hirn kommt. Und die Frau sagt…

»Klar«, sagte Luke. »Alles, was du verlangst.«

»Super!«, sagte Wendy. »Dann wollen wir mal…«

»Nein, das hat die da gesagt.« Er zeigte auf das Paar, das den Gehsteig vor der Polizeistation erreicht hatte. Jetzt hielten die beiden sich nicht mehr an der Hand. Luke wandte sich an Tim, in seinen weit aufgerissenen Augen lag Panik. »Das ist eine von denen, die mich gekidnappt haben! Im Institut hab ich sie wiedergesehen! Im Pausenraum! Sie sind hier! Ich hab dir ja gesagt, dass sie kommen, und jetzt sind sie hier!«

Luke wirbelte herum und rannte auf die Tür zu, die von außen nicht verriegelt war, damit Annie nachts hereinkommen konnte, wenn sie wollte.

»Was…«, fing Wendy an, aber Tim wartete nicht. Er rannte hinter dem Jungen aus dem Güterwagen her. Vielleicht hatte der doch recht gehabt, was Norbert Hollister anging.

29

»Na?«, flüsterte Orphan Annie so laut, dass man es kaum mehr als Flüstern bezeichnen konnte. »Glaubst du mir jetzt, Mr. Corbett Denton?«

Drummer erwiderte nichts, weil er zu verarbeiten versuchte, was er da vor sich sah: drei nebeneinander stehende Vans und dahinter eine Gruppe von Männern und Frauen. Die waren zu neunt. Damit hätte man ein verdammtes Baseballteam aufstellen können. Und Annie hatte recht, sie waren bewaffnet. Es dämmerte zwar, doch im Spätsommer war es ziemlich lange hell, und außerdem waren die Straßenlaternen angegangen. Drummer sah in Gürtelholstern steckende Pistolen und zwei lange Flinten, die nach Sturmgewehren aussahen. Mordwerkzeuge. Das Baseballteam hatte sich nahe dem Gehsteig an der Seite des alten Kinos versammelt, geschützt von dessen Ziegelmauer. Offensichtlich warteten diese Typen auf irgendetwas.

»Die haben Kundschafter ausgesandt!«, zischte Annie. »Siehst du, wie die gerade die Straße überqueren? Die wollen bestimmt rauskriegen, wie viele Leute beim Sheriff drin sind! Holst du jetzt endlich deine verdammten Waffen, oder muss ich das selbst tun?«

Drummer drehte sich um und rannte zum ersten Mal in zwanzig, wenn nicht gar dreißig Jahren richtig los. Nachdem er die Treppe zu seiner Wohnung über dem Friseurladen erklommen hatte, blieb er stehen, um ein paarmal tief Luft zu holen. Dabei fragte er sich, ob sein Herz die Anstrengung aushalten oder einfach platzen würde.

Sein Gewehr Kaliber .30-06, mit dem er sich in einer dieser im Süden so schönen Nächte erschießen wollte (vielleicht hätte er das schon getan, hätte er nicht gelegentlich ein interessantes Gespräch mit dem neuen städtischen Nachtklopfer geführt), stand im Kleiderschrank und war geladen. Das waren auch die automatische Pistole Kaliber .45 und der Revolver .38 auf dem obersten Regalbrett.

Er griff sich alle drei Waffen und rannte die Treppe wieder hinunter, keuchend, schwitzend und wahrscheinlich stinkend wie ein Schwein im Dampfbad – aber dafür fühlte er sich zum ersten Mal seit Jahren wieder lebendig. Unten angelangt, lauschte er auf das Geräusch von Schüssen, aber bisher war nichts zu hören.

Vielleicht sind es Cops, dachte er, aber das kam ihm eher unwahrscheinlich vor. Cops wären einfach reinmarschiert, hätten ihre Ausweise vorgezeigt und erklärt, weshalb sie gekommen seien. Außerdem wären sie mit schwarzen SUVs – Modell Suburban oder Escalade – angereist.

Wenigstens taten sie das im Fernsehen.

30

Nick Wilholm führte die zusammengewürfelte Truppe aus entführten Jungen und Mädchen zu der abgesperrten Tür des Vorderbaus zurück. Manche der Insassen von Station A waren dabei, andere tappten nur durch die Gegend. Pete Littlejohn fing wieder an, sich auf den Kopf zu klopfen und dabei ja-ja-ja-ja-ja-ja zu rufen. Im Tunnel entstand ein Echo, das seinen rhythmischen Singsang nicht nur nervig, sondern unerträglich machte.

»Fasst euch an den Händen«, sagte Nicky. »Alle.« Er hob das Kinn, deutete auf die umhertappenden Rüben und fügte hinzu: Ich glaube, ich kann sie anlocken.

Wie Mücken mit einer Insektenlampe, dachte Kalisha. Was zwar nicht besonders nett war, aber das war die Wahrheit selten.

Sie kamen tatsächlich. Während sie sich nacheinander dem Kreis anschlossen, wurde das Summen lauter. Durch die Wände des Tunnels war der Kreis eher kapselförmig, aber das machte nichts. Die Kraft war da.

Kalisha begriff, was Nicky dachte, nicht nur weil sie es auffing, sondern auch weil es die einzige Strategie war, die ihnen blieb.

Gemeinsam stärker, dachte sie, bevor sie laut zu Avery sagte: »Knack das Schloss da, Avester!«

Das Summen schwoll wieder zu dem rückgekoppelten Kreischen an. Hätte irgendjemand noch Kopfschmerzen gehabt, so hätte der entsetzt die Flucht ergriffen. Wieder empfand Kalisha ein Gefühl erhabener Kraft. Ein ähnliches Gefühl hatte sie verspürt, wenn die Wunderkerze gebrannt hatte, aber da war es ein schmutziges Gefühl gewesen. Jetzt war es makellos rein, weil sie es selbst erzeugten. Die Kinder von Station A schwiegen, aber sie lächelten. Auch sie spürten es, und es gefiel ihnen. Wahrscheinlich, dachte Kalisha, kommen sie damit dem Denken so nahe, wie es für sie überhaupt noch möglich ist.

Die Tür gab ein leises Ächzen von sich, und sie sahen, wie sie sich in ihrem Rahmen bewegte, aber das war alles. Avery hatte sich auf die Zehenspitzen erhoben und sein kleines Gesicht konzentriert angespannt. Jetzt sank er in sich zusammen und stieß den Atem aus.

George: Nein?

Avery: Nein. Wenn die Tür bloß abgeschlossen wäre, könnten wir es schaffen, glaube ich, aber es ist so, als wäre gar kein Schloss da.

»Tot«, sagte Iris. »Tot, tot, mausetot, ich hab es ja gesagt, das Schloss ist tot.«

»Die haben die Schlösser irgendwie eingefroren«, sagte Nicky. Und einfach durchbrechen können wir nicht, oder?

Avery: Nein, das ist massiver Stahl.

»Wo ist Superman, wenn man ihn braucht?«, sagte George. Er schob sich mit den Fingern die Wangen hoch, was ein humorloses Grinsen zum Vorschein brachte.

Helen setzte sich auf den Boden, schlug die Hände vors Gesicht und fing zu weinen an. »Wozu sind wir denn gut?« Das wiederholte sie, diesmal als mentales Echo: Wozu sind wir denn gut?

Nicky sah Kalisha an. Irgendwelche Ideen?

Nein.

Er wandte sich an Avery. Was ist mit dir?

Avery schüttelte den Kopf.

31

»Was meinen Sie mit nicht ganz?«, fragte Stackhouse.

Anstatt etwas zu erwidern, hastete Donkey Kong durchs Zimmer zur Sprechanlage, auf deren Gehäuse sich eine dicke Staubschicht abgesetzt hatte. Stackhouse hatte sie noch kein einziges Mal benutzt – es war ja nicht so, als ob er irgendwelche Tanzveranstaltungen oder Quizabende anzukündigen hatte. Dr. Hendricks beugte sich vor, um die primitiven Bedienelemente zu studieren, dann legte er einen Schalter um, worauf ein grünes Lämpchen aufleuchtete.

»Was haben Sie denn…«

Jetzt war Hendricks an der Reihe, Klappe zu sagen, und anstatt wütend zu werden, verspürte Stackhouse eine gewisse Bewunderung. Was immer der gute Doktor vorhatte, er hielt es offenbar für wichtig.

Hendricks griff nach dem Mikrofon, dann hielt er inne. »Kann man dafür sorgen, dass die entflohenen Kinder nicht hören, was ich sage? Wäre nicht gut, wenn sie auf gewisse Ideen kommen.«