»Im Tunnel gibt es keine Lautsprecher«, sagte Stackhouse und hoffte, damit recht zu haben. »Und der Hinterbau hat eine separate Sprechanlage, glaube ich. Was haben Sie denn vor?«
Hendricks sah ihn an, als wäre er geistig beschränkt. »Bloß weil man die körperlich eingesperrt hat, heißt das noch lange nicht, dass sie das auch mental wären.«
Ach du Scheiße, dachte Stackhouse. Ich habe ganz vergessen, wofür die hier sind.
»Wie funktioniert dieses Ding ei… Schon gut, ich hab’s kapiert.« Hendricks drückte die Taste an der Seite des Mikrofons, räusperte sich und begann zu sprechen. »Achtung, bitte. Alle Mitarbeiter, Achtung. Hier spricht Dr. Hendricks.« Er fuhr sich mit der Hand durch seine schütteren Haare, die dadurch noch wirrer wurden, als sie es bereits waren. »Aus dem Hinterbau sind Kinder entkommen, aber es besteht kein Grund zur Sorge. Ich wiederhole, kein Grund zur Sorge. Diese Kinder sind im Tunnel zwischen Vorder- und Hinterbau eingesperrt. Allerdings könnten sie versuchen, manche Mitarbeiter zu beeinflussen, so wie sie…« Er unterbrach sich, um sich mit der Zunge die Lippen zu befeuchten. »So wie sie bestimmte Leute beeinflussen, wenn diese ihre Arbeit verrichten. Zum Beispiel versuchen sie eventuell, jemand dazu zu bringen, sich selbst zu verletzen. Oder… tja… sie wollen zwei Personen dazu bringen, aufeinander loszugehen.«
Du lieber Himmel, dachte Stackhouse, das ist ja eine schöne Vorstellung.
»Hören Sie gut zu«, fuhr Hendricks fort. »Eine solche mentale Unterwanderung kann nur gelingen, wenn die Zielpersonen ahnungslos sind. Falls Sie also etwas spüren sollten… falls Sie Gedanken wahrnehmen, die nicht die Ihren sind… bleiben Sie ruhig und wehren Sie sich dagegen. Schieben Sie diese Gedanken von sich weg. Das wird Ihnen ziemlich leicht gelingen. Es kann nützlich sein, dabei etwas laut auszusprechen. Zu sagen: Ich höre nicht auf dich.«
Er wollte das Mikrofon weglegen, aber Stackhouse nahm es ihm ab. »Hier spricht Stackhouse. Alle Kinder im Vorderbau sind sofort in ihre Zimmer zu befördern. Setzt eure Taser ein, falls jemand sich weigert.«
Er schaltete die Sprechanlage aus und wandte sich an Hendricks. »Vielleicht fällt das den kleinen Scheißern im Tunnel ja gar nicht ein. Sind ja schließlich nur Kinder.«
»O doch, es wird ihnen einfallen«, sagte Hendricks. »Sie sind ja geübt darin.«
32
Tim holte Luke ein, als der gerade die Tür zum Zellentrakt öffnete. »Warte hier, Luke. Wendy, du kommst mit.«
»Du glaubst doch nicht wirklich…«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Lass deine Waffe vorläufig stecken, aber mach den Riemen auf.«
Während Tim und Wendy den kurzen Gang zwischen den vier leeren Zellen entlangeilten, hörten sie eine Männerstimme. Die klang ganz angenehm. Gut gelaunt sogar. »Man hat meiner Frau und mir erzählt, in Beaufort gäb’s ein paar interessante historische Gebäude, und da wollten wir eine Abkürzung nehmen, aber unser Navi hat uns in die Pfanne gehauen.«
»Ich hab ihn gezwungen, hier anzuhalten, um nach dem Weg zu fragen«, sagte die Frau, und als Tim das Büro betrat, sah er, dass sie ihren Mann – falls der blonde Typ das tatsächlich war – mit komischer Verzweiflung anblickte. »Das wollte er nämlich nicht. Männer meinen immer zu wissen, wo’s langgeht, nicht wahr?«
»Hören Sie, wir haben gerade ziemlich viel zu tun«, sagte Sheriff John, »und da hab ich keine Zeit…«
»Das ist sie!«, schrie Luke hinter Tim und Wendy so laut, dass beide zusammenzuckten. Die anderen Beamten sahen sich um. Luke drängte sich so rücksichtslos an Wendy vorbei, dass sie an die Wand taumelte. »Das ist die, die mir was ins Gesicht gesprüht hat, um mich zu betäuben! Du verdammte Bitch, du hast meine Eltern umgebracht!«
Er wollte sich auf die Frau stürzen, aber Tim erwischte ihn am Kragen und riss ihn zurück. Der blonde Mann und die Frau mit dem Blumenmusterkleid blickten überrascht, ja verblüfft drein. Anders gesagt: völlig normal. Nur dass Tim glaubte, für einen Moment noch einen anderen Ausdruck im Gesicht der Frau gesehen zu haben – ein flüchtiges Wiedererkennen.
»Da gibt es offenbar ein Missverständnis«, sagte sie und setzte ein verwirrtes Lächeln auf. »Wer ist dieser Junge? Ist er gaga?«
Obwohl er nur der städtische Nachtklopfer war und das noch fünf Monate bleiben würde, verhielt Tim sich, ohne nachzudenken, wieder wie ein Cop, genau wie in der Nacht, wo zwei junge Typen den kleinen Supermarkt überfallen und Absimil Dobira angeschossen hatten. »Wie wär’s, wenn Sie sich erst mal ausweisen?«, sagte er.
»Aber das ist doch wirklich nicht nötig«, sagte die Frau. »Ich weiß zwar nicht, für wen der Junge da uns hält, aber wir haben uns verirrt, und als ich klein war, hat meine Mutter mir immer gesagt, wenn ich mich verirre, soll ich einen Polizisten nach dem Weg fragen.«
Sheriff John erhob sich. »Mhm, mhm, das könnte stimmen, und wenn dem so ist, haben Sie doch sicher nichts dagegen, uns Ihren Führerschein zu zeigen, oder?«
»Überhaupt nicht«, sagte der Mann. »Der ist in meinem Portemonnaie.« Die Frau griff bereits mit ärgerlicher Miene in ihre Handtasche.
»Achtung!«, brüllte Luke. »Die sind bewaffnet!«
Tag Faraday und George Burkett blickten erstaunt drein, Frank Potter und Bill Wicklow eher verblüfft.
»Moment mal!«, sagte Sheriff John. »Die Hände so, dass ich sie sehen kann!«
Keiner der beiden zögerte. Als die Hand von Michelle Robertson aus ihrer Handtasche kam, hielt sie keinen Führerschein, sondern die SIG Sauer Nightmare Micro, mit der sie ausgestattet worden war. Denny Williams hatte ebenfalls nicht nach seinem Portemonnaie gegriffen, sondern nach seiner Glock. Der Sheriff und Deputy Faraday griffen nach ihren Dienstwaffen, aber sie waren langsam, sehr langsam.
Tim nicht. Er zog Wendy die Pistole aus dem Holster und richtete sie mit beiden Händen auf das Paar. »Waffen runter, runter damit!«
Das taten die beiden nicht. Michelle Robertson zielte auf Luke, worauf Tim einen einzigen Schuss auf sie abgab, der sie mit solcher Wucht rückwärts gegen einen Türflügel des Eingangs warf, dass die Milchglasscheibe einen Sprung bekam.
Denny Williams ließ sich auf ein Knie sinken und zielte auf Tim, der gerade noch Zeit hatte zu denken: Der Typ ist ein Profi, und ich bin geliefert. Doch dann zuckte die auf ihn gerichtete Waffe wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen nach oben, und das für Tim gedachte Geschoss bohrte sich in die Decke. Sheriff John Ashworth hob das Bein und versetzte dem blonden Mann einen Tritt an den Kopf, der ihn zu Boden warf. Bill Wicklow stampfte ihm aufs Handgelenk.
»Gib auf, du Dreckskerl, gib einfach auf!«
In diesem Moment erkannte Mrs. Sigsby, dass etwas schiefgelaufen war, worauf sie Louis Grant und Tom Jones befahl, die Sturmgewehre einzusetzen. Williams und Robertson waren nicht weiter wichtig.
Der Junge schon.
33
Die beiden HK33 erfüllten die bisher friedliche Dämmerung von DuPray mit Donner. Grant und Jones bestrichen die Backsteinfront der Polizeistation mit Feuer. Wölkchen aus rötlichem Staub stiegen auf, Fenster und Türscheiben zerbarsten nach innen. Die beiden standen auf dem Gehsteig, der Rest von Team Gold hatte sich hinter ihnen auf der Straße verteilt. Die einzige Ausnahme war Dr. Evans, der abseits stand und sich die Hände auf die Ohren presste.
»Jaaah!«, rief Winona Briggs. Sie tanzte von einem Bein aufs andere, als müsste sie dringend aufs Klo. »Macht sie kalt!«
»Los jetzt!«, brüllte Mrs. Sigsby. »Rein mit euch! Holt euch den Jungen oder tötet ihn! Holt ihn oder…«