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Da erklang hinter ihnen eine Stimme. »Moment, Ma’am, da geht niemand rein. Wenn ihr’s versucht, leg ich euch um, das schwöre ich bei Gott. Ihr zwei da vorne, legt die Flinten auf den Boden, und zwar fix!«

Louis Grant und Tom Jones drehten sich um, allerdings ohne ihre Waffen hinzulegen.

»Wird’s bald?«, sagte Annie. »Sonst seid ihr tot. Das ist kein Scherz, Jungs. Ihr seid hier im Süden.«

Die beiden sahen sich an, dann legten sie ihre Sturmgewehre behutsam auf den Gehsteig.

Unter dem durchhängenden Vordach des Kinos sah Mrs. Sigsby zwei geradezu unglaubliche Gegner stehen: einen fetten Mann mit einem Pyjamaoberteil über der Hose und eine Frau mit wirren Haaren, die so was wie einen mexikanischen Poncho trug. Der Mann hatte ein Gewehr. Die Frau im Poncho hatte in einer Hand eine automatische Pistole und in der anderen einen Revolver.

»Ihr anderen tut jetzt schön dasselbe«, sagte Drummer Denton. »Ich hab euch vor der Flinte.«

Mrs. Sigsby betrachtete die beiden Hillbillys, die vor dem verlassenen Kino standen, und hatte einen zugleich schlichten und erschöpften Gedanken: Hört das denn nie auf?

Ein Schuss im Innern der Polizeistation, eine kurze Pause, dann ein weiterer Schuss. Als die Hillbillys in die betreffende Richtung blickten, bückten Grant und Jones sich schnell, um ihre Waffen aufzuheben.

»Untersteht euch!«, brüllte die Frau im Poncho.

Robin Lecks, die vor nicht allzu langer Zeit den Vater von Luke durch ein Kissen hindurch erschossen hatte, nutzte dieses winzige Zeitfenster, um ihre Pistole zu ziehen. Die anderen Mitglieder von Team Gold warfen sich auf den Boden, damit Grant und Jones ein freies Schussfeld hatten. Diese Reaktion hatte man ihnen antrainiert. Mrs. Sigsby blieb an Ort und Stelle stehen, als könnte ihre Wut auf das unerwartete Problem sie vor jedem Kugelhagel schützen.

34

Als die Konfrontation in South Carolina gerade erst begann, saßen Kalisha und ihre Freunde niedergeschlagen vor der Tür zum Vorderbau. Öffnen konnten sie die nicht, weil Iris recht hatte: Das Schloss war tot.

Nicky: Vielleicht können wir doch was tun. Die Typen im Vorderbau so überrumpeln wie die Pfleger vorhin.

Avery schüttelte den Kopf. Er sah weniger wie ein kleiner Junge aus als wie ein erschöpfter alter Mann. Das hab ich schon versucht. Hab Gladys aufs Korn genommen, weil ich die hasse. Die und ihr falsches Grinsen. Sie hat gesagt, dass sie nicht auf mich hört, und hat mich weggeschoben.

Kalisha betrachtete die Kinder aus Station A, die wieder durch die Gegend wanderten, als könnten sie irgendwo hin. Ein Mädchen schlug Rad; ein Junge mit verdreckten Boardshorts und einem zerrissenen T-Shirt ließ seinen Kopf unablässig, wenn auch nicht besonders hart, gegen die Wand dotzen; Pete Littlejohn plapperte immer noch sein Ja-ja-ja-ja-ja-ja vor sich hin. Aber wenn man sie rief, würden sie kommen, und sie verfügten über eine große Kraft. Kalisha griff nach der Hand von Avery. »Wenn wir alle gemeinsam…«

»Nein«, sagte Avery. Vielleicht schaffen wir es, dass die da oben sich ein bisschen komisch fühlen, dass ihnen schwindlig und übel wird… »Aber mehr nicht.«

Kalisha: Aber warum? Warum denn? Wenn wir diesen Bombenbastler drüben in Afghanistan töten konnten…

Avery: Weil der es vorher nicht gewusst hat. Der Prediger, dieser Westin, hat auch keine Ahnung. Aber wenn man es vorher weiß…

George: Dann kann man uns abwehren.

Avery nickte.

»Was können wir dann tun?«, sagte Helen. »Irgendwas muss es doch geben.«

Wieder schüttelte Avery den Kopf. Mir fällt nichts ein.

»Aber mir«, sagte Kalisha. »Wir stecken hier fest, aber wir kennen jemand, der draußen ist. Allerdings brauchen wir dafür alle.« Sie deutete mit dem Kopf auf die umherwandernden Flüchtlinge aus Station A. »Rufen wir sie!«

»Ich weiß nicht recht, Sha«, sagte Avery. »Bin ziemlich müde.«

»Bloß noch das eine Mal«, redete sie ihm zu.

Avery seufzte und streckte die Hände aus. Kalisha, Nicky, George, Helen und Katie bildeten mit ihm einen Kreis. Nach kurzem Zögern gesellte Iris sich dazu. Wieder kamen die anderen langsam angezuckelt. Sobald der kapselförmige Kreis vollständig war, schwoll das Summen an. Im Vorderbau spürten die Pfleger, MTAs und Hausmeister es und bekamen Angst, aber es war nicht auf sie gerichtet. Vierzehnhundert Meilen weit entfernt hatte Tim gerade eine Kugel direkt zwischen Michelle Robertsons Brüste gefeuert; Grant und Jones hoben ihre Sturmgewehre, um die Front der Polizeistation zu bestreichen; Bill Wicklow hatte Denny Williams den Fuß aufs Handgelenk gesetzt; neben ihm stand Sheriff John.

Die Kinder im Institut riefen Luke.

35

Luke überlegte nicht, ob er seine Gedanken einsetzen sollte, um die Waffe des blonden Mannes hochzucken zu lassen; er tat es einfach. Die Stass-Lichter kamen wieder und überlagerten vorübergehend alles andere. Als sie verblassten, sah er einen von den Cops auf dem Handgelenk des Blonden stehen, damit der seine Waffe losließ. Der Mund des Mannes war vor Schmerz verzerrt, Blut lief ihm am Gesicht hinunter, aber er gab nicht nach. Der Sheriff hob das Bein, um ihm einen weiteren Tritt an den Schädel zu verpassen.

Das alles sah Luke noch, doch dann waren die Stass-Lichter wieder da, greller denn je, und die Stimmen seiner Freunde trafen ihn wie ein Hammerschlag mitten im Kopf. Er taumelte rückwärts in den Durchgang zum Zellentrakt, die Hände wie zur Abwehr eines Boxhiebs gehoben, und stolperte über die eigenen Beine. Gerade als Grant und Jones losfeuerten, landete er auf dem Hintern.

Er sah, wie Tim sich auf Wendy stürzte, sie zu Boden riss und ihren Körper mit seinem schützte. Er sah Geschosse in den Sheriff und den Deputy einschlagen, der auf dem Handgelenk des Blonden stand. Beide stürzten zu Boden. Glassplitter flogen durch die Luft. Jemand schrie, wahrscheinlich Wendy. Draußen hörte Luke eine Frau, deren Stimme ihn merkwürdig an Mrs. Sigsby erinnerte, etwas rufen, was nach los jetzt klang.

Benommen von der doppelten Dosis an Stass-Lichtern und den vereinten Stimmen seiner Freunde, hatte Luke den Eindruck, dass alles um ihn herum sich verlangsamte. Er sah, wie sich einer von den anderen Deputys – er war verwundet, an seinem Arm lief Blut herunter – dem Eingang zuwandte, wahrscheinlich um festzustellen, wer da geschossen hatte. Seine Bewegungen wirkten wie in Zeitlupe. Dasselbe galt für den blonden Mann, der sich auf die Knie erhob. Es war, als würde Luke sich ein Unterwasserballett ansehen. Der Blonde schoss dem Deputy in den Rücken, um sich dann Luke zuzuwenden. Das geschah schneller, offenbar beschleunigte sich alles wieder. Bevor der Blonde abdrücken konnte, beugte sich ein anderer Deputy, er hatte rote Haare, nach unten und schoss ihm in die Schläfe. Der Blonde zuckte zur Seite und landete auf der Frau, die behauptet hatte, mit ihm verheiratet zu sein.

Draußen rief eine Frau, aber nicht die, die wie Mrs. Sigsby klang, sondern eine mit Südstaatenakzent: »Untersteht euch!«

Wieder krachten Schüsse, dann schrie die erste Frau: »Der Junge! Wir müssen den Jungen erwischen!«

Das ist sie tatsächlich, dachte Luke. Ich weiß nicht, wie das sein kann, aber sie ist es. Das da draußen ist Mrs. Sigsby.

36

Robin Lecks war eine gute Schützin, aber die Dämmerung hatte zugenommen, und die Entfernung war für eine Handfeuerwaffe nicht gerade günstig. Ihr Schuss erwischte Drummer Denton oben an der Schulter, anstatt sich in seinen Kopf zu bohren. Er taumelte rückwärts an das mit Brettern vernagelte Fenster der Kinokasse, und die nächsten beiden Schüsse gingen weit daneben. Orphan Annie wich nicht von der Stelle. Dazu war sie in der Wildnis von Georgia von einem Vater erzogen worden, der ihr eingeschärft hatte: »Gib nie klein bei, Mädchen, nicht um alles in der Welt!« Egal ob betrunken oder nüchtern, war Jean Ledoux ein erstklassiger Schütze gewesen und hatte ihr seine Künste beigebracht. Jetzt eröffnete sie mit beiden Waffen das Feuer, wobei sie den stärkeren Rückstoß der Fünfundvierziger kompensierte, ohne auch nur darüber nachzudenken. Sie erlegte einen der Typen mit den Sturmgewehren (es war Tony Fizzale, der nie wieder einen Schockstock einsetzen würde), ohne auf die drei oder vier Geschosse zu achten, die an ihr vorbeipfiffen. Eines flirtete kurz mit dem Saum ihres Ponchos.