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Die hätte sich mit dem Disponentendienst begnügen sollen, dachte er, aber jetzt ist es zu spät. Ich glaube, wir werden alle sterben.

Hinter dem Tisch kam Luke zum Vorschein, den Laptop in beiden Händen. Er schwang ihn und traf die jüngere Frau damit mitten im Gesicht, wobei der bereits gesprungene Bildschirm endgültig zersplitterte. An Mund und Nase blutend, taumelte die Angreiferin rückwärts, kollidierte mit der Frau im Hosenanzug und hob wieder ihre Pistole.

»Waffe runter, runter, runter!«, brüllte Wendy. Sie hatte sich die Glock von Tag Faraday gegriffen. Die Frau achtete nicht darauf. Sie zielte auf Luke, der den von Maureen Alvorson stammenden USB-Stick aus dem Laptop zog, anstatt in Deckung zu gehen. Wendy kniff die Augen zusammen und gab drei Schüsse ab, wobei sie jedes Mal, wenn sie den Abzug betätigte, einen schrillen Schrei ausstieß. Das erste Geschoss traf die Frau direkt über der Nase in die Stirn. Das zweite pfiff durch den leeren Rahmen in der Tür, wo sich hundertfünfzig Sekunden zuvor noch eine Milchglasscheibe befunden hatte.

Das dritte bohrte sich ins Bein der Frau mit dem Hosenanzug. Der flog die Pistole aus der Hand, dann sank sie mit einem ungläubigen Staunen im Gesicht zu Boden. »Sie haben auf mich geschossen. Wieso haben Sie das getan?«

»Sind Sie bescheuert?«, sagte Wendy. »Na, was meinen Sie wohl?« Glassplitter knirschten unter ihren Schuhen, während sie auf die Frau zuging, die jetzt an die Wand gelehnt auf dem Boden saß. Die Luft stank nach Schießpulver, und der Raum – ehemals hübsch ordentlich, jetzt ein Schlachtfeld – war von blauen Rauchschwaden erfüllt. »Schließlich haben Sie denen gerade befohlen, den Jungen da zu erschießen!«

Die Frau bedachte sie mit einem überheblichen Lächeln. »Sie verstehen nicht, worum es geht. Wie auch. Der Junge gehört mir. Er ist Eigentum.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Tim.

Luke kniete sich neben die Frau im Hosenanzug. Auf seinen Wangen waren Blutspritzer, in einer Augenbraue hatte sich ein kleiner Glassplitter verfangen. »Wer hat das Sagen im Institut, solange Sie weg sind? Stackhouse? Ist es der?«

Sie sah ihn nur an.

»Ist es Stackhouse?«

Nichts.

Drummer Denton trat herein und sah sich um. Seine Pyjamajacke war auf einer Seite mit Blut getränkt, aber er wirkte trotzdem bemerkenswert munter. Gutaale Dobira spähte ihm mit weit aufgerissenen Augen über die Schulter.

»Heilige Scheiße«, sagte Drummer. »Das ist ein Massaker.«

»Ich musste auf einen Mann schießen«, sagte Gutaale. »Und Mrs. Goolsby hat auf eine Frau geschossen, die versucht hat, sie zu erschießen. Das war ein klarer Fall von Selbstverteidigung.«

»Wie viele sind denn noch da draußen?«, fragte Tim. »Und sind die alle außer Gefecht, oder können uns noch welche gefährlich werden?«

Annie schob Gutaale Dobira beiseite und stellte sich neben Drummer. Mit ihrem Poncho und einer rauchenden Waffe in jeder Hand schien sie einem Italowestern entsprungen zu sein. Tim war nicht überrascht. Den konnte nichts mehr überraschen. »Ich glaube, alle aus den Vans da draußen sind unter Kontrolle«, sagte sie. »Mehrere sind verwundet, einer mit ’ner Kugel im Fuß, ’nem anderen geht’s gar nicht gut. Das ist der, den Dobira erwischt hat. Die übrigen Dreckskerle habt ihr ja offenbar hier drin erledigt.« Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Mein Gott, der Sheriff und seine Leute! Wer ist von denen überhaupt noch übrig?«

Wendy, dachte Tim, ohne es auszusprechen. Die ist jetzt wohl der kommissarische Sheriff. Vielleicht wird das auch Ronnie Gibson, wenn sie aus dem Urlaub wiederkommt. Wahrscheinlich sogar. Wendy will den Job bestimmt nicht haben.

Inzwischen standen Addie Goolsby und Richard Bilson neben Gutaale Dobira, direkt hinter Annie und Drummer. Bilson starrte entsetzt auf die von Einschüssen durchlöcherten Wände, die Glassplitter, die Blutlachen auf dem Boden, die herumliegenden Leichen, und schlug sich die Hand vor den Mund.

Addie Goolsby war aus härterem Holz geschnitzt. »Der Doc ist unterwegs«, sagte sie. »Draußen auf der Straße hat sich die halbe Stadt versammelt, größtenteils bewaffnet. Die Frau, auf die ich geschossen hab, ist wahrscheinlich tot, aber es war so, wie Mr. Dobira sagt, schlicht und einfach Selbstverteidigung. Aber was ist hier drin passiert? Und wer ist das?« Sie deutete auf den hageren Jungen mit dem Verband am Ohr.

Luke nahm sie gar nicht wahr. Er war ganz auf die Frau im Hosenanzug fixiert. »Stackhouse, klar. Wer sonst. Ich muss Kontakt mit ihm aufnehmen. Wie mache ich das?«

Die Frau starrte ihn nur an. Tim kniete sich neben Luke. Was er in den Augen der Frau sah, war Schmerz, Ungläubigkeit und Hass. Welche der Empfindungen dominierte, konnte er nicht sagen, aber wenn er hätte raten müssen, so hätte er sich für Hass entschieden. Der war immer am stärksten, zumindest kurzfristig.

»Luke…«

Luke reagierte nicht. Er blickte der Frau unverwandt ins Gesicht. »Ich muss Kontakt mit ihm aufnehmen, Mrs. Sigsby. Meine Freunde sind seine Gefangenen.«

»Das sind keine Gefangenen, sondern Eigentum!«

Wendy kam hinzu. »Als in der Schule das Thema dran war, wie Lincoln die Sklaven befreit hat, haben Sie offenbar gefehlt, Ma’am.«

»Kommt einfach her und ballert in unserer Stadt rum«, sagte Annie. »Aber wir haben’s euch gezeigt, was?«

»Lass das, Annie«, sagte Wendy.

»Ich muss in Kontakt mit ihm treten, Mrs. Sigsby«, sagte Luke. »Einen Deal mit ihm aushandeln. Sagen Sie mir endlich, wie ich ihn erreiche.«

Weil sie immer noch nicht antwortete, presste Luke den Daumen auf das Einschussloch in ihrer roten Hose. Mrs. Sigsby kreischte auf. »Nicht, tu das nicht, das tut verdammt WEH!«

»So ein Schockstock tut auch weh!«, brüllte Luke sie an. Glasscherben strömten klirrend über den Boden und bildeten kleine Bäche. Annie starrte fasziniert darauf. »Spritzen tun weh! Fast ertränkt zu werden tut weh! Und wie ist es, wenn man dir das Hirn aufreißt?« Wieder presste er den Daumen in die Wunde. Die Tür zum Zellentrakt knallte so laut zu, dass alle zusammenzuckten. »Wie ist es, wenn man dir das Hirn zerstört? Das tut am meisten weh!«

»Helft mir!«, kreischte Mrs. Sigsby. »Sorgt dafür, dass er aufhört!«

Wendy bückte sich, um Luke wegzuziehen. Tim schüttelte den Kopf und hielt sie am Arm fest. »Nein.«

»Das ist die Verschwörung«, flüsterte Annie mit weit aufgerissenen Augen Drummer zu. »Die Frau da arbeitet für die Verschwörung. Das tut der ganze Haufen! Ich hab’s ja schon immer gewusst, ich hab’s gesagt, aber niemand hat mir geglaubt!«

Das Dröhnen in Tims Ohren ließ allmählich nach. Er hörte keine Sirenen, was ihn nicht wunderte. Wahrscheinlich wusste die State Police noch nicht mal, dass es in DuPray eine Schießerei gegeben hatte. Und wenn jemand den Notruf wählte, erreichte er nicht die South Carolina Highway Patrol, sondern den Sheriff von Fairlee County – und damit das Schlachtfeld hier. Er warf einen Blick auf seine Uhr und sah verblüfft, dass nur fünf Minuten vergangen waren, seit die Welt sich auf den Kopf gestellt hatte. Höchstens sechs.

»Mrs. Sigsby, nicht wahr?«, sagte er, während er sich neben Luke kniete.

Sie sagte nichts.

»Sie stecken ganz schön in der Patsche, Mrs. Sigsby. Ich rate Ihnen, Luke zu sagen, was er wissen will.«

»Ich brauche medizinische Versorgung.«

Tim schüttelte den Kopf. »Zuerst mal müssen Sie reden. Dann sehen wir, was sich mit der medizinischen Versorgung machen lässt.«

»Luke hat die Wahrheit gesagt«, sagte Wendy zu niemand Bestimmtem. »In jeder Hinsicht.«