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»Hab ich das nicht gerade schon gesagt?«, verkündete Annie triumphierend.

Doc Roper drängte sich durch die Tür. »Jesus, Maria und Josef«, sagte er. »Wer ist überhaupt noch am Leben? Wie schwer ist die Frau da verwundet? War das etwa ein Terroranschlag?«

»Man foltert mich«, sagte Mrs. Sigsby. »Wenn Sie Arzt sind, worauf die große schwarze Tasche in Ihrer Hand hinzuweisen scheint, haben Sie die Verpflichtung, dem Ganzen ein Ende zu bereiten.«

»Doc, der Junge, den Sie vorhin behandelt haben, war auf der Flucht vor dieser Frau und dem Stoßtrupp, den sie mitgebracht hat«, sagte Tim. »Ich weiß nicht, wie viele Leichen da draußen liegen, aber hier haben wir fünf Menschen verloren, darunter den Sheriff, und das ist auf Befehl von der Frau da geschehen.«

»Darüber reden wir später«, sagte Doc Roper. »Jetzt muss ich mich erst mal um sie kümmern. Sie blutet. Außerdem muss jemand einen Rettungswagen rufen, verdammt noch mal.«

Mrs. Sigsby warf Luke einen kurzen Blick zu und entblößte die Zähne zu einem Grinsen, das heißen sollte: Ich hab gewonnen! »Danke, Doktor«, sagte sie zu Roper. »Vielen Dank.«

»Die da ist ziemlich hart im Nehmen«, sagte Annie nicht ohne Bewunderung. »Aber draußen liegt ein Bursche, dem ich in den Fuß geschossen hab, und dem geht’s nicht so gut. Wenn ich Sie wär, würd ich mich jetzt erst mal um den kümmern, Doc. Ich glaub, für einen Schuss Morphin tät der die eigene Oma verkaufen.«

Mrs. Sigsby riss erschrocken die Augen auf. »Lassen Sie ihn in Ruhe. Ich verbiete Ihnen, mit ihm zu sprechen!«

Tim erhob sich. »Sie haben uns gar nichts zu verbieten. Ich weiß zwar nicht, für wen Sie arbeiten, Lady, aber Kinder kidnappen werden Sie bestimmt nicht mehr. Luke, Wendy, kommt doch mal mit.«

38

In allen Häusern der Stadt waren die Lichter angegangen, und auf der Hauptstraße von DuPray wimmelte es von Leuten. Die Leichen wurden mit irgendetwas bedeckt, was gerade bei der Hand war. Jemand hatte den Schlafsack von Orphan Annie aus der Durchfahrt geholt und über Robin Lecks drapiert.

Bei alledem hatte man Dr. Evans völlig vergessen. Vermutlich hätte er zu einem von den parkenden Vans hinken können, um zu fliehen, doch das hatte er gar nicht versucht. Tim, Wendy und Luke fanden ihn vor dem Kino, wo er auf dem Bordstein hockte. Auf seinen Wangen glänzten Tränen. Es war ihm gelungen, seinen Schuh auszuziehen, und jetzt starrte er auf eine blutige Socke, die einen übel entstellten Fuß verhüllte. Ob Knochen zertrümmert waren oder ob es sich bloß um eine Schwellung handelte, die irgendwann verschwinden würde, war nicht zu beurteilen. Es war Tim auch egal.

»Wie ist Ihr Name, Sir?«, fragte er.

»Der ist nicht von Belang. Ich will einen Anwalt. Und einen Arzt. Eine Frau hat auf mich geschossen. Ich will, dass die verhaftet wird.«

»Sein Name ist James Evans«, sagte Luke. »Und er ist selbst Arzt. So wie Josef Mengele einer war.«

Evans schien Luke erst jetzt zu bemerken. Er richtete den zitternden Zeigefinger auf ihn. »Das ist alles deine Schuld!«

Luke wollte sich auf Evans stürzen, doch diesmal hielt Tim ihn zurück und schob ihn sanft, aber entschieden auf Wendy zu, die ihn an den Schultern fasste.

Tim ging in die Hocke, damit er dem bleichen, verängstigten Mann direkt in die Augen blicken konnte. »Hören Sie mir zu, Dr. Evans. Hören Sie mir gut zu. Sie und Ihre Freunde sind großspurig hier einmarschiert, um den Jungen da einzukassieren. Dabei haben Sie fünf Menschen umgebracht. Alles Polizeibeamte. Nun wissen Sie das vielleicht nicht, aber South Carolina hat die Todesstrafe, und wenn Sie meinen, die würde man nicht unverzüglich anwenden, wenn jemand einen Sheriff und vier Deputys auf dem Gewissen hat…«

»Damit hatte ich nichts zu tun!«, quäkte Evans. »Ich bin nur unter Protest mitgekommen! Ich…«

»Klappe!«, sagte Wendy. Sie hatte die Glock des verstorbenen Tag Faraday in der Hand und richtete sie jetzt auf den noch beschuhten Fuß. »Diese Männer waren auch meine Freunde. Falls Sie denken, ich lese Ihnen jetzt Ihre Rechte vor oder so, irren Sie sich gewaltig. Wenn Sie Luke jetzt nicht sofort sagen, was er wissen will, werde ich Ihnen einen Schuss in Ihren anderen…«

»Schon gut! Schon gut! Ich sag’s!« Evans beugte sich vor und hielt schützend die Hände über seinen unverletzten Fuß. Dabei tat er Tim beinahe leid. Aber nur beinahe. »Worum geht es? Was willst du wissen?«

»Ich muss mit Stackhouse sprechen«, sagte Luke. »Wie stelle ich das an?«

»Mit ihrem Telefon«, sagte Evans. »Sie hat ein spezielles Gerät dabei. Damit hat sie ihn angerufen, bevor sie versucht haben, die… du weißt schon… die Extraktion durchzuführen. Ich hab gesehen, wie sie es danach in ihre Jackentasche gesteckt hat.«

»Ich hole es«, sagte Wendy und wandte sich der Polizeistation zu.

»Bring nicht nur das Telefon mit«, sagte Luke. »Bring auch sie mit.«

»Luke… sie hat eine Schusswunde.«

»Vielleicht brauchen wir sie«, sagte Luke. Sein Blick war eisern.

»Wozu?«

Weil es jetzt ein Schachspiel war, und beim Schach verließ man sich nie auf den Zug, den man gerade machen wollte, oder auf den nächsten. Drei Züge im Voraus, so lautete die Regel. Und außerdem drei Alternativen, je nachdem wie der Gegner reagierte.

Wendy sah Tim an, der nickte. »Bring sie mit. Leg ihr Handschellen an, falls nötig. Schließlich bist du bei der Polizei.«

»Mein Gott, was für ein Gedanke«, sagte sie und machte sich auf den Weg.

Jetzt hörte Tim endlich eine Sirene. Vielleicht sogar zwei. Allerdings noch ganz leise.

Luke fasste ihn am Handgelenk. Tim fand, dass der Junge völlig konzentriert und völlig wach, aber auch todmüde aussah. »Ich darf hier nicht festhängen. Man hält meine Freunde gefangen. Die sitzen in der Falle, und niemand kann ihnen helfen außer mir.«

»Gefangen in diesem Institut.«

»Ja. Jetzt glaubst du mir, oder?«

»Nach allem, was auf dem USB-Stick war, und dem, was gerade passiert ist, fällt mir das nicht schwer. Was ist eigentlich mit dem Stick? Hast du den eingesteckt?«

Luke klopfte auf seine Hosentasche.

»Mrs. Sigsby und die Leute, mit denen sie zusammenarbeitet, wollen deinen Freunden etwas antun, bis die so enden wie die Kinder in der Station, die wir gesehen haben?«

»Damit haben sie schon angefangen, aber dann sind meine Freunde ausgebrochen. Vor allem mit Averys Hilfe, und der war nur dort, weil er mir vorher bei der Flucht geholfen hat. Was man wohl als ironisch bezeichnen würde. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie inzwischen wieder festsitzen. Und ich hab Angst, dass Stackhouse sie töten wird, wenn ich ihm keinen Deal anbiete.«

Wendy kam wieder. Sie hatte ein kastenförmiges Gerät dabei, bei dem es sich um ein Telefon handeln konnte. Auf ihrem Handrücken sah man drei blutende Kratzer.

»Sie wollte es nicht hergeben. Und trotz ihrer Verwundung ist sie erstaunlich kräftig.« Wendy reichte Tim das Gerät und warf einen Blick über die Schulter. Orphan Annie und Drummer Denton schleppten Mrs. Sigsby über die Straße. Obwohl sie leichenblass war und sichtlich Schmerzen hatte, wehrte sie sich, so gut sie konnte. Dahinter kamen mindestens drei Dutzend Bürger von DuPray, angeführt von Doc Roper.

»Da ist sie, Timmy«, sagte Orphan Annie. Sie rang nach Atem, und auf ihrer Wange und ihrer Schläfe waren rote Flecke, wo Mrs. Sigsby sie geschlagen hatte, aber trotzdem wirkte sie kein bisschen aufgeregt. »Was sollen wir mit ihr machen? Ich schätze, sie aufzuhängen kommt nich infrage, aber wär das nich ’ne ausgesprochen reizvolle Idee?«

Doc Roper stellte seine schwarze Tasche ab, packte Annie am Poncho, zog sie zur Seite und baute sich vor Tim auf. »Was in Gottes Namen denken Sie sich eigentlich? Man kann die Frau nicht so durch die Gegend schleppen! Sonst bringt man sie noch um!«