»Also, ich hab nicht den Eindruck, dass sie am Tor des Todes steht«, sagte Drummer Denton. »Jedenfalls hat sie mir eben fast die Nase gebrochen.« Er lachte. Tim erinnerte sich nicht, dass er ihn je hatte lachen hören.
Wendy kümmerte sich weder um Drummer noch um den Arzt. »Wenn wir wegwollen, Tim, sollten wir das tun, bevor die State Police eintrifft.«
»Bitte.« Luke sah erst Tim und dann Doc Roper an. »Wenn wir nichts unternehmen, werden meine Freunde sterben, das weiß ich ganz bestimmt. Und es sind noch andere bei ihnen, die Rüben, wie man sie nennt.«
»Ich will ins Krankenhaus«, sagte Mrs. Sigsby. »Hab viel Blut verloren. Außerdem will ich mit einem Anwalt sprechen.«
»Halten Sie bloß die Klappe, sonst kracht’s«, sagte Annie. Sie sah Tim an. »Die is nich so schlimm verwundet, wie sie behauptet. Sie blutet nich mal mehr.«
Tim reagierte nicht sofort. Er dachte an den gar nicht so lange zurückliegenden Tag, an dem er die Westfield Mall von Sarasota aufgesucht hatte, um ein Paar Schuhe zu kaufen, sonst nichts, bis eine Frau auf ihn zugerannt kam, weil er eine Uniform trug. Am Kino würde ein junger Kerl mit einer Waffe herumwedeln, sagte sie, weshalb Tim sich die Sache angeschaut und vor einer Entscheidung gestanden hatte, die sein Leben veränderte. Vor einer Entscheidung, die ihn im Grunde hierhergeführte hatte. Jetzt musste er eine weitere Entscheidung treffen.
»Verbinden Sie die Frau, Doc. Ich glaube, Wendy, Luke und ich werden mit den beiden da eine kleine Spazierfahrt machen und sehen, ob wir die Sache klären können.«
»Geben Sie ihr auch was gegen die Schmerzen«, sagte Wendy.
Tim schüttelte den Kopf. »Nein, geben Sie das lieber mir. Ich entscheide, wann sie es bekommt.«
Doc Roper starrte Tim – und Wendy – an, als ob er sie noch nie im Leben gesehen hätte. »Das ist nicht richtig.«
»Falsch, Doc«, sagte Annie in erstaunlich sanftem Ton. Sie nahm den Arzt bei den Schultern und drehte ihn so herum, dass er die verhüllten Leichen auf der Straße und die Polizeistation mit ihren zertrümmerten Fenstern und Türflügeln sah. »Das ist nich richtig.«
Doc Roper hielt einen Moment inne und betrachtete die Szene, die sich ihm bot. Dann traf auch er eine Entscheidung. »Sehen wir mal, in welchem Zustand sie ist. Wenn sie stark blutet oder wenn der Oberschenkelknochen zertrümmert ist, lasse ich nicht zu, dass ihr sie mitnehmt.«
Doch, das wirst du, dachte Tim. Weil du keine Möglichkeit hast, uns aufzuhalten.
Der Arzt kniete sich hin, klappte seine Tasche auf und entnahm ihr eine medizinische Schere.
»Nein«, sagte Mrs. Sigsby und entwand sich dem Griff von Drummer Denton. Der packte sie zwar sofort wieder, aber vorher stellte Tim interessiert fest, dass sie ihr verwundetes Bein belasten konnte. Doc Roper sah es ebenfalls. Er war nicht mehr der Jüngste, bekam aber immer noch alles mit. »Sie werden mich doch nicht mitten auf der Straße operieren wollen!«
»Das Einzige, was ich operieren werde, ist Ihr Hosenbein«, sagte der Arzt. »Außer wenn Sie weiter so rumzappeln. Dann kann ich nämlich für nichts garantieren.«
»Nein! Ich verbiete Ihnen…«
Annie packte sie am Hals. »Sie ham uns überhaupt nix zu verbieten! Stillhalten, sonst is Ihr Bein das Letzte, worum Sie sich Sorgen machen.«
»Lassen Sie mich los!«
»Nur wenn Sie stillhalten. Sonst dreh ich Ihnen den dürren Hals um.«
»Tun Sie lieber, was Annie sagt«, riet Addie Goolsby. »Wenn die ’nen Rappel kriegt, ist sie nicht aufzuhalten.«
Mrs. Sigsby gab die Gegenwehr auf, vielleicht ebenso aus Erschöpfung wie aus Furcht davor, erwürgt zu werden. Doc Roper schnippelte säuberlich ein Stück über der Wunde rings um das Hosenbein. Als es auf den Knöchel heruntersank, kamen weiße Haut, ein Geflecht aus Krampfadern und etwas zum Vorschein, was eher wie eine Schnitt- als wie eine Schusswunde aussah.
»Na, Gott sei Dank«, sagte Doc Roper erleichtert. »Das ist nichts Schlimmes. Schlimmer als ein Streifschuss, aber nicht sehr. Sie hatten Glück, Ma’am. Das Blut gerinnt schon.«
»Ich bin schwer verwundet!«, schrie Mrs. Sigsby.
»Das werden Sie gleich sein, wenn Sie nicht endlich die Klappe halten«, sagte Drummer.
Der Arzt betupfte die Wunde mit Desinfektionsmittel, dann wickelte er eine Binde darum und befestigte sie mit Verbandklammern. Als er fertig war, hatte es den Anschein, dass sich ganz DuPray – jedenfalls der Teil, der in der Nähe wohnte – zum Gaffen versammelt hatte. Inzwischen beschäftigte Tim sich mit dem Telefon von Mrs. Sigsby. Als er die Taste an der Seite drückte, leuchtete das Display auf, und ein Hinweis erschien: AKKULADUNG 75 %.
Er schaltete das Gerät wieder aus und reichte es Luke. »Behalt das mal vorläufig.«
Während Luke es in die Tasche steckte, in der sich schon der USB-Stick befand, zupfte jemand an seiner Hose. Es war Evans. »Du musst dich in Acht nehmen, junger Luke – jedenfalls wenn du verhindern willst, dass man dich verantwortlich macht.«
»Verantwortlich wofür?«, fragte Wendy.
»Für das Ende der Welt, Miss. Für das Ende der Welt.«
»Halten Sie bloß den Mund, Sie Trottel«, sagte Mrs. Sigsby.
Tim überlegte einen Augenblick, dann wandte er sich an Doc Roper. »Ich weiß zwar nicht genau, womit wir es hier zu tun haben, aber es ist was Außergewöhnliches. Deshalb brauchen wir Zeit, uns mit den beiden zu beschäftigen. Wenn die Leute von der State Police aufkreuzen, sagen Sie denen, dass wir in einer, höchstens zwei Stunden wieder da sind. Dann können wir versuchen, uns wenigstens einigermaßen an die polizeilichen Vorschriften zu halten.«
Das war ein Versprechen, das er wohl nicht würde halten können. Er hatte den Eindruck, dass seine Zeit in DuPray, South Carolina, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorüber war, und das fand er schade.
Er hätte hier durchaus sein restliches Leben verbringen wollen. Vielleicht zusammen mit Wendy.
39
Gladys Hickson stand in entspannter Habtachtstellung vor Stackhouse, die Beine leicht gespreizt und die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Das falsche Lächeln, das jedes Kind im Institut kennenlernte (und hasste), war nicht einmal andeutungsweise zu erkennen.
»Ihnen ist klar, welche Situation eingetreten ist, Gladys?«
»Ja, Sir. Die Insassen vom Hinterbau befinden sich im Verbindungstunnel.«
»Richtig. Da kommen sie zwar nicht raus, aber vorläufig kommen wir auch nicht rein. Soweit mir bekannt ist, haben die da unten versucht, mithilfe ihrer paranormalen Fähigkeiten mehrere Mitarbeiter zu… manipulieren?«
»Ja, Sir. Das funktioniert aber nicht.«
»Aber es ist unangenehm.«
»Ja, Sir, ein bisschen schon. Man spürt so eine Art… Summen. Das wirkt verwirrend. Bis hier ins Verwaltungsgebäude dringt es nicht, wenigstens noch nicht, aber drüben im Vorderbau spüren es alle.«
Was leicht erklärbar ist, dachte Stackhouse, schließlich ist der Vorderbau näher am Tunnel. Sogar direkt darüber, könnte man sagen.
»Außerdem scheint es stärker zu werden, Sir.«
Vielleicht tat es das nur in ihrer Fantasie. Das konnte Stackhouse hoffen, so wie er hoffen konnte, dass Donkey Kongs Meinung zutraf, Dixon und seine Freunde seien selbst dann, wenn die Rüben ihre unleugbaren Kräfte beitrugen, nicht in der Lage, Personen zu beeinflussen, die darauf vorbereitet waren. Aber, wie sein Großvater zu sagen pflegte, allein mit Hoffnung gewann man noch kein Pferderennen.
Wohl weil sein Schweigen sie nervös machte, sprach Gladys weiter. »Aber wir wissen, was die im Schilde führen, und daher ist es kein Problem. Man sagt ja nicht umsonst, Wissen ist Macht.«