»Gut ausgedrückt, Gladys. Jetzt zu dem Grund, weshalb ich Sie herbestellt habe. Soweit ich weiß, haben Sie in Ihrer Jugend an der University of Massachusetts studiert.«
»Das stimmt, Sir, aber nur drei Semester. Es war nicht so mein Ding, deshalb hab ich abgebrochen und bin zu den Marines gegangen.«
Stackhouse nickte. Es war nicht nötig, sie in Verlegenheit zu bringen, indem er auf das hinwies, was in ihrer Akte stand: Nach einem guten ersten Jahr war Gladys im zweiten in erhebliche Schwierigkeiten geraten. In einer Studentenkneipe nicht weit vom Campus hatte sie eine Rivalin im Kampf um die Zuneigung ihres Boyfriends mit einem Bierkrug bewusstlos geschlagen, worauf man sie nicht nur aus besagter Kneipe, sondern auch aus dem College geworfen hatte. Der Vorfall war nicht ihr erster Wutausbruch gewesen. Kein Wunder, dass sie sich gerade bei den Marines beworben hatte.
»Soweit ich weiß, hatten Sie im Hauptfach Chemie.«
»Nein, Sir, nicht so ganz. Ich hatte mich noch für kein Hauptfach entschieden, bevor man… bevor ich beschlossen habe, das Studium abzubrechen.«
»Aber Sie hatten vor, Chemie zu wählen.«
»Äh, ja, Sir, damals schon.«
»Gladys, angenommen, wir bräuchten – um einen zu Unrecht diffamierten Ausdruck zu verwenden – eine Endlösung für die Insassen im Tunnel. Ich sage nicht, dass das der Fall sein wird, das sage ich ganz und gar nicht, aber angenommen, es wäre der Fall.«
»Fragen Sie sich, ob man die irgendwie vergiften könnte, Sir?«
»Gehen wir mal davon aus.«
Jetzt trat Gladys doch ein Lächeln aufs Gesicht, und zwar ein völlig echtes. Vielleicht sogar vor Erleichterung. Wenn die Insassen erledigt waren, würde schließlich das nervige Summen aufhören. »Tja, das wäre kinderleicht, Sir, vorausgesetzt, der Tunnel ist an die HLKK-Anlage angeschlossen, was er bestimmt ist.«
»HLKK?«
»Heizung, Lüftung, Klima- und Kältetechnik, Sir. Man bräuchte ein Bleichmittel und WC-Reiniger. In den Putzschränken ist mehr als genug davon. Wenn man beides mischt, entsteht Chlorgas. Man muss also nur ein paar Eimer von dem Zeug unter das Ansaugrohr stellen, das in den Tunnel führt, ein Plane drüberdecken, damit ordentlich Sog entsteht, und das wär’s schon.« Sie machte eine nachdenkliche Pause. »Natürlich sollte man das Personal im Hinterbau evakuieren, bevor man das tut, weil es vielleicht nur einen Ansaugkanal für diesen Teil unserer Anlage gibt. Da bin ich mir nicht sicher. Ich kann mir die HLKK-Pläne ansehen, wenn Sie das…«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Stackhouse. »Aber vielleicht könnten Sie zusammen mit Fred Clark von der Hausmeisterei die… äh… geeigneten Bestandteile bereitstellen. Nur für den Notfall, Sie verstehen.«
»Jawohl, Sir, gern.« Gladys konnte es sichtlich kaum erwarten zu gehen. »Darf ich fragen, wo Mrs. Sigsby ist? In ihrem Büro ist sie nämlich nicht, und Rosalind hat gesagt, ich soll Sie fragen, wenn ich es wissen will.«
»Was Mrs. Sigsby gerade tut, geht Sie nichts an, Gladys.« Und da sie anscheinend entschlossen war, ihren militärischen Habitus beizubehalten, fügte er hinzu: »Wegtreten!«
Sie ging davon, um Fred den Hausmeister zu suchen und mit ihm die Zutaten zu besorgen, die den Kindern und dem Summen, das inzwischen auch den Vorderbau ergriffen hatte, den Garaus machen würden.
Stackhouse lehnte sich zurück und überlegte, ob ein derart radikales Vorgehen wohl notwendig werden könnte. Das war durchaus möglich. Wenn man bedachte, was man hier seit ungefähr sieben Jahrzehnten trieb, war es eigentlich gar nicht besonders radikal. In diesem Geschäft war der Tod unvermeidlich, und manchmal erforderte eine üble Situation eben einen Neuanfang.
Allerdings hing dieser Neuanfang von Mrs. Sigsby ab. Deren Expedition nach South Carolina war einigermaßen hirnrissig, aber genau solche Pläne funktionierten oft. Dabei fiel Stackhouse ein Spruch von Mike Tyson ein: Sobald die Fäuste fliegen, ist jede Strategie im Eimer. Seine eigene Ausstiegsstrategie stand ohnehin fest. Seit Jahren schon. Er hatte Geld beiseitegelegt und gefälschte Reisepässe (gleich drei), seine Reisepläne waren geschmiedet, das Ziel erwartete ihn. Dennoch würde er hier so lange ausharren, wie er konnte, teilweise aus Loyalität gegenüber Julia, aber hauptsächlich weil er an das glaubte, was sie hier leisteten. Die Welt für die Demokratie zu bewahren war zweitrangig. In erster Linie ging es darum, sie überhaupt zu bewahren.
Es gibt keinen Grund, mich jetzt schon davonzumachen, sagte er sich. Das Kind sitzt am Brunnenrand, ist aber noch nicht reingefallen. Am besten warte ich ab. Sehen wir mal, wer noch steht, wenn der Pulverdampf sich verzogen hat.
Deshalb wartete er darauf, dass das kastenförmige Telefon sein schrilles Brrt-brrt von sich gab. Sobald Julia ihn informierte, wie es da unten gelaufen war, würde er alles Weitere entscheiden. Sollte das Telefon überhaupt nicht läuten, war das ja ebenfalls eine Antwort.
40
An der Kreuzung von US 17 und SR 92 stand ein trauriges, kleines, verlassenes Friseurgeschäft. Tim fuhr auf den Parkplatz und ging zur anderen Seite des Wagens, wo Mrs. Sigsby auf dem Beifahrersitz saß. Er öffnete ihre Tür, dann schob er die Schiebetür hinten auf. Dort saßen Luke und Wendy links und rechts neben Dr. Evans, der trübsinnig auf seinen verunstalteten Fuß starrte. Wendy hatte die Glock von Tag Faraday auf dem Schoß, Luke das unförmige Telefon von Mrs. Sigsby.
»Luke, komm mal her. Wendy, bleib bitte sitzen.«
Als Luke ausgestiegen war, bat Tim ihn um das Telefon. Luke reichte es ihm; er drückte auf die Taste an der Seite und beugte sich zur Beifahrertür. »Wie funktioniert das Ding?«
Anstatt etwas zu erwidern, blickte Mrs. Sigsby geradeaus auf das mit Brettern vernagelte Gebäude, auf dessen verblasstem Schild Hairport 2000 stand. Die Grillen zirpten, und aus Richtung DuPray hörte man Sirenen. Die waren jetzt näher, aber immer noch nicht in der Stadt angelangt. Was sie jedoch bald sein würden.
Tim seufzte. »Machen Sie’s uns nicht so schwer, Ma’am. Luke meint, wir können eventuell einen Deal machen, und er ist ein schlauer Junge.«
»Schlauer, als gut für ihn ist«, sagte sie, dann presste sie die Lippen zusammen. Sie blickte immer noch durch die Windschutzscheibe, die Arme über ihrem dürren Busen verschränkt.
»In Anbetracht der Lage, in der Sie sich befinden, würde ich eher sagen, er ist schlauer, als gut für Sie ist. Und wenn ich sage, Sie sollen es uns nicht so schwer machen, dann meine ich, dass Sie mich nicht zwingen sollen, Ihnen wehzutun. Für jemand, der Kindern Schmerzen zugefügt hat…«
»Schmerzen zugefügt und ermordet«, warf Luke ein. »Und noch andere getötet.«
»Für jemand, der so etwas tut, kommen Sie mir bemerkenswert schmerzempfindlich vor. Also hören Sie auf mit der Schweigenummer, und sagen Sie mir, wie das Ding da funktioniert.«
»Es ist stimmaktiviert«, sagte Luke. »Ist doch so, oder?«
Sie sah ihn erstaunt an. »Du bist doch TK, nicht TP. Und nicht mal besonders stark TK.«
»Das hat sich geändert«, sagte Luke. »Durch die Stass-Lichter. Aktivieren Sie das Telefon, Mrs. Sigsby!«
»Du willst einen Deal aushandeln?«, sagte sie und stieß ein bellendes Lachen aus. »Was für ein Deal könnte mir wohl nützen? Ich bin auf jeden Fall erledigt. Weil ich versagt habe.«
Tim steckte den Kopf durch die Schiebetür. »Wendy, gib mir die Pistole.«
Das tat sie ohne Widerrede.
Tim richtete die Mündung von Deputy Faradays Dienstwaffe auf das Hosenbein, das noch vorhanden war. Gleich unterhalb vom Knie. »Das ist eine Glock, Ma’am. Wenn ich abdrücke, werden Sie nie wieder gehen können.«
»Der Schock zusammen mit dem Blutverlust wird sie umbringen!«, quäkte Dr. Evans.