Mrs. Sigsby wandte sich zum ersten Mal seit dem Zwischenhalt an dem verlassenen Friseurgeschäft an Tim. »Durch das, was der Junge durchgemacht hat, ist er wahnsinnig geworden, und Sie sind wahnsinnig, wenn Sie auf ihn hören. Ich kann Ihnen nur raten, Dr. Evans und mich hierzulassen und schleunigst die Flucht zu ergreifen.«
»Was bedeuten würde, dass wir meine Freunde sterben lassen«, sagte Luke.
Mrs. Sigsby lächelte. »Ach Luke, denk doch mal nach. Was haben die eigentlich je für dich getan?«
»Das würden Sie doch nicht verstehen«, sagte Luke. »In einer Million Jahre nicht.«
»Geh nur, Wendy«, sagte Tim, nahm ihre Hand und drückte sie. »Besorg dir ein Zimmer, und komm dann wieder her.«
Sie warf ihm einen zweifelnden Blick zu, reichte ihm jedoch die Glock, stieg aus und machte sich auf den Weg zur Rezeption.
»Ich möchte betonen«, sagte Dr. Evans, »dass ich nur unter…«
»Unter Protest, ja«, sagte Tim. »Das haben wir inzwischen kapiert. Halten Sie jetzt die Klappe.«
»Können wir mal kurz aussteigen?«, fragte Luke. »Ich will mit dir sprechen, ohne dass…« Er deutete mit dem Kinn auf Mrs. Sigsby.
»Klar, kein Problem.« Tim öffnete die Beifahrer- und die Schiebetür, dann stellte er sich an den Zaun, der den Parkplatz von dem geschlossenen Autohaus nebenan abgrenzte. Luke trat zu ihm. Von seinem Standort aus hatte Tim die beiden unfreiwilligen Passagiere im Blick und konnte eingreifen, falls sie abhauen wollten. Was allerdings nicht sehr wahrscheinlich war wegen einer Schusswunde am Bein beziehungsweise einer im Fuß.
»Was ist denn?«, fragte Tim.
»Spielst du Schach?«
»Ich kenne die Regeln, war aber nie besonders gut darin.«
»Ich schon«, sagte Luke mit leiser Stimme. »Und jetzt spiele ich mit ihm Schach. Mit Stackhouse. Verstehst du das?«
»Ich glaube, ja.«
»Das heißt, ich versuche, drei Züge vorauszudenken und außerdem Gegenmaßnahmen gegen seine zukünftigen Züge vorzubereiten.«
Tim nickte.
»Im Schach spielt Zeit keine große Rolle, außer beim Schnellschach, und das spielen wir jetzt. Zuerst müssen wir von hier zu dem Flugplatz, wo das Flugzeug wartet. Dann fliegen wir irgendwo in die Nähe von Presque Isle, wo es stationiert ist. Von da fahren wir zum Institut. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir es vor zwei Uhr morgens bis dorthin schaffen. Was meinst du?«
Tim rechnete im Kopf nach und nickte. »Vielleicht wird es ein bisschen später, aber sagen wir mal um zwei.«
»Damit bleiben meinen Freunden fünf Stunden Zeit, selbst etwas zu unternehmen, aber Stackhouse hat ebenfalls fünf Stunden, seine Lage zu überdenken und sich anders zu entscheiden. Dazu, die Kinder zu vergasen und einfach abzuhauen. Ich hab ihm gesagt, dass sein Foto in jedem Flughafen hängen wird, was er mir abgekauft hat, glaube ich, weil es irgendwo im Internet Fotos von ihm geben muss. Viele von den Leuten im Institut waren früher beim Militär. Er wahrscheinlich auch.«
»Vielleicht ist sogar auf dem Handy von dieser Giftschlange ein Foto von ihm«, sagte Tim.
Luke nickte, obwohl er bezweifelte, dass Mrs. Sigsby zu den Leuten gehörte, die Schnappschüsse machten. Er wollte sich nicht ablenken lassen. »Deshalb kommt er vielleicht auf die Idee, sich zu Fuß über die kanadische Grenze zu schleichen. Bestimmt hat er sich mindestens eine alternative Fluchtroute ausgedacht, einen nicht mehr benutzten Waldweg oder ein Flussufer. Das ist einer von seinen möglichen zukünftigen Schachzügen, die ich im Kopf behalten muss. Nur…«
»Nur was?«
Luke rieb sich mit dem Handballen die Wange, eine merkwürdig erwachsene Geste der Erschöpfung und Unentschlossenheit. »Nur brauche ich deine Meinung. Was ich mir denke, kommt mir logisch vor, aber ich bin noch ein Kind. Da kann ich mir nicht sicher sein. Du bist erwachsen, und du bist einer von den Guten.«
Das rührte Tim. Er warf einen Blick auf das Motel, aber von Wendy war noch nichts zu sehen. »Dann sag mir mal, was du so denkst.«
»Dass ich Stackhouse total aus dem Gleichgewicht gebracht habe. Ich habe seine ganze Welt zertrümmert. Vielleicht bleibt er deshalb einfach da, um mich zu töten, und benutzt meine Freunde als Köder, damit ich auch ganz sicher komme. Leuchtet dir das ein? Sag mir die Wahrheit.«
»Das leuchtet mir durchaus ein«, sagte Tim. »Rache kann eine starke Motivation sein, und dieser Stackhouse wäre nicht der Erste, der gegen die eigenen Interessen handelt, um sich zu rächen. Mir fällt aber noch ein weiterer Grund ein, weshalb er sich entscheiden könnte zu bleiben.«
»Und welcher?« Luke beäugte ihn nervös. Hinter dem Motel kam Wendy Gullickson hervor, eine Schlüsselkarte in der Hand.
Tim deutete mit dem Kopf auf die offene Beifahrertür des Vans. »Sigsby ist die Chefin, oder?«, flüsterte er Luke ins Ohr. »Stackhouse ist nur ihr Vollstrecker?«
»Stimmt.«
»Tja«, sagte Tim mit leichtem Lächeln. »Wer ist dann ihr Chef? Hast du mal darüber nachgedacht?«
Lukes Augen weiteten sich, und sein Mund klappte ein kleines Stück weit auf. Er hatte kapiert. Und strahlte.
3
Viertel nach neun.
Es war still im Institut. Die Kinder, die sich zurzeit im Vorderbau aufhielten, schliefen dank dem Beruhigungsmittel, das Joe und Hadad verteilt hatten. Im Tunnel schliefen die fünf, von denen die Meuterei ausgegangen war, ebenfalls, aber wahrscheinlich nicht tief. Stackhouse hoffte, dass sie furchtbar von ihren Kopfschmerzen gequält wurden. Wach waren nur die Rüben, die durch die Gegend taperten, als könnten sie irgendwohin gelangen. Manchmal bildeten sie einen Kreis wie beim Ringelreigen.
Stackhouse war ins Büro von Mrs. Sigsby zurückgekehrt und hatte mit dem Zweitschlüssel, den er von ihr erhalten hatte, die verschlossene unterste Schublade des Schreibtischs geöffnet. Jetzt hielt er das spezielle kastenförmige Telefon in der Hand, das sie Grünes Telefon oder Nullfon nannten. Er dachte an etwas, was Julia einmal über das Gerät mit seinen drei Tasten gesagt hatte. Das war im Dorf gewesen, irgendwann im vergangenen Jahr, als bei Heckle und Jeckle noch die meisten Gehirnzellen funktioniert hatten. Die Kinder vom Hinterbau hatten gerade einen Saudi erledigt, der Geld an Terrorzellen in Europa schleuste, und es hatte perfekt nach einem Unfall ausgesehen. Alles lief bestens. Zur Feier des Tages hatte Julia ihn zum Abendessen eingeladen. Vorher hatten sie gemeinsam eine Flasche Wein geleert, beim Essen und danach eine zweite. Das hatte ihr die Zunge gelockert.
»Ich hasse es, mit dem Nullfon Bericht zu erstatten«, hatte sie gesagt. »Diesen Mann mit der lispelnden Stimme… ich stelle ihn mir immer als Albino vor. Weiß gar nicht, wieso. Vielleicht hab ich als Mädchen so jemand in einem Comicheft gesehen. Einen Albinoschurken mit Röntgenaugen.«
Stackhouse hatte verständnisvoll genickt. »Wo ist der eigentlich stationiert? Und wer ist er?«
»Das weiß ich nicht und will es auch nicht wissen. Ich rufe ihn an, erstatte Bericht und stelle mich dann unter die Dusche. Schlimmer, als mit dem Nullfon anzurufen, wäre nur eines. Nämlich angerufen zu werden.«
Jetzt betrachtete Stackhouse das Nullfon mit einer Art abergläubischen Furcht, als könnte die Erinnerung an den Abend mit Mrs. Sigsby bewirken, dass das Ding da in seiner Hand…
»Nein«, sagte er. Zum leeren Zimmer. Zu dem stummen Telefon. Wenigstens war es vorläufig stumm. »Mit Aberglaube hat das nichts zu tun. Du wirst nämlich wirklich bald läuten. Das ist einfach logisch.«
Natürlich. Weil die Leute am anderen Ende des Nullfons – der lispelnde Mann und die Organisation, der er angehörte – von dem spektakulären Reinfall in diesem Kaff in South Carolina erfahren würden. Vielleicht wussten sie sogar schon Bescheid. Wenn sie über Hollister informiert waren, den in DuPray wohnenden Zuträger des Instituts, hatten sie sich möglicherweise bei ihm gemeldet, um alle schmutzigen Details zu erfahren.