Dennoch hatte das Nullfon noch nicht geläutet. Bedeutete das, dass die noch keine Ahnung hatten, oder bedeutete es, dass sie ihm Zeit ließen, die Sache in Ordnung zu bringen?
Stackhouse hatte dem Mann namens Tim erklärt, jeder Deal hänge davon ab, ob man die Existenz des Instituts geheim halten könne oder nicht. Er war nicht so töricht zu glauben, dass man einfach weitermachen konnte, zumindest nicht hier in den Wäldern von Maine, aber wenn er es irgendwie schaffte, die Lage zu bereinigen, ohne dass die Medien auf der ganzen Welt über paranormal begabte Kinder berichteten, die missbraucht und ermordet worden waren… und darüber, weshalb… dann wäre das schon ein gewisser Erfolg. Vielleicht belohnte man ihn sogar, wenn ihm eine hieb- und stichfeste Vertuschungsstrategie einfiel, aber es würde schon Belohnung genug sein, am Leben zu bleiben.
Laut diesem Tim wussten momentan nur drei Leute Bescheid. Alle anderen, die die Videos auf dem USB-Stick gesehen hatten, waren tot. Eventuell hatten einige Mitglieder des unglückseligen Teams Gold überlebt, aber die würden den Mund halten.
Abwarten, bis Luke Ellis und seine Unterstützer hier sind, dachte er. Das ist der erste Schritt. Vielleicht treffen die schon um zwei Uhr morgens ein, aber selbst wenn es um halb eins sein sollte, habe ich genügend Zeit, einen Hinterhalt zu planen. Zur Verfügung stehen mir zwar nur MTAs und Pfleger, aber einige von denen – Zeke der Grieche zum Beispiel – sind harte Burschen. Ich muss den USB-Stick in die Hände kriegen und die, die ihn haben, ebenfalls. Und wenn der Mann mit dem Lispeln wie erwartet anruft und fragt, wie ich mit der Lage umgehe, kann ich antworten…
»Ich kann antworten, dass bereits alles unter Kontrolle ist«, sagte Stackhouse laut.
Er legte das Nullfon auf Mrs. Sigsbys Schreibtisch und sandte ihm eine mentale Botschaft: Nicht läuten! Wage es bloß nicht, vor drei Uhr morgen früh zu läuten. Noch besser wäre vier oder fünf.
»Gib mir genügend Zeit…«
Das Telefon läutete, worauf Stackhouse einen erschrockenen Schrei ausstieß. Dann lachte er, obwohl sein Herz viel zu schnell hämmerte. Das war nicht das Nullfon, sondern sein Spezialhandy. Was bedeutete, dass der Anruf aus South Carolina kam.
»Hallo? Ist da Tim oder Luke?«
»Hier ist Luke. Hören Sie gut zu, ich erkläre Ihnen jetzt, wie es laufen wird.«
4
Kalisha hatte sich in einem sehr großen Haus verirrt und keine Ahnung, wie sie hinauskommen sollte, weil sie nicht wusste, wie sie hineingelangt war. Sie befand sich in einem Flur, der dem im Vorderbau ähnelte, wo sie eine Weile gelebt hatte, bevor sie nach hinten geschafft worden war, damit man ihr das Gehirn ausplündern konnte. Nur war dieser Flur mit Kommoden, Spiegeln und Garderoben eingerichtet und mit etwas, was wie ein Elefantenfuß mit Regenschirmen drin aussah. Auf einem Beistelltischchen stand ein Telefon, das genauso aussah wie das in der Küche ihres Elternhauses, und es läutete. Sie griff danach, und da sie schlecht sagen konnte, was man ihr schon mit vier Jahren beigebracht hatte (»Familie Benson«), sagte sie einfach hallo.
»¡Hola! ¿Me escuchas?« Es war die Stimme eines Mädchens, schwach und so von statischem Knistern durchsetzt, dass sie gerade noch zu verstehen war.
Was hola bedeutete, wusste Kalisha, weil sie in der Schule ein Jahr Spanisch gehabt hatte, während escuchas nicht zu ihrem dürftigen Wortschatz gehörte. Dennoch wusste sie, was das Mädchen sagte, und da wurde ihr klar, dass das Ganze ein Traum war.
»Ja, mhm, ich kann dich hören. Wo bist du? Und wer bist du überhaupt?«
Aber das Mädchen war fort.
Kalisha legte das Telefon weg und ging weiter den Flur entlang. Sie spähte in einen Raum, der wie ein Salon aus einem alten Film aussah, und dann in einen Ballsaal. Der Boden war mit schwarzen und weißen Quadraten belegt, was sie daran erinnerte, wie Luke und Nicky draußen auf dem Spielplatz Schach gespielt hatten.
Ein anderes Telefon läutete. Kalisha eilte darauf zu und kam in eine hübsche moderne Küche. Der Kühlschrank war mit Fotos, Magneten und einem Stoßstangenaufkleber mit der Aufschrift BERKOWITZ FOR PRESIDENT verziert. Obwohl sie Berkowitz überhaupt nicht kannte, wusste sie, dass das seine Küche war. Das Telefon hing an der Wand. Es war größer als das auf dem Tischchen vorher und erst recht größer als das in der Küche zu Hause. Fast kam es ihr wie ein Scherzartikel vor. Aber es läutete, weshalb sie abhob.
»Hallo? ¿Hola? Hier spricht – me llamo – Kalisha.«
Aber es war nicht das Mädchen, das spanisch sprach. Es war ein Junge. »Bonjour, tu m’entends?« Französisch. Bonjour war französisch. Andere Sprache, dieselbe Frage, und diesmal war die Verbindung besser. Nicht sehr, aber immerhin ein bisschen.
»Ja, oui, oui, ich kann dich hören! Wo bist…«
Aber der Junge war fort, und wieder ein anderes Telefon läutete. Kalisha rannte durch eine Speisekammer in einen Raum mit Strohwänden und gestampftem Lehmboden, der größtenteils von einer farbenprächtigen Webmatte bedeckt war. Das war die letzte Station eines flüchtigen afrikanischen Warlords namens Badu Bokassa, dem eine seiner Gespielinnen ein Messer in den Hals gerammt hatte. In Wirklichkeit war er allerdings von einem Haufen Kinder getötet worden, die mehrere Tausend Meilen entfernt waren. Dr. Hendricks hatte seinen Zauberstab geschwungen – bei dem es sich um eine billige Wunderkerze handelte–, und schon war Mr. Bokassa erledigt. Das Telefon auf der Matte war noch größer als die vorherigen, beinahe so groß wie eine Tischlampe. Als Kalisha den Hörer abhob, lag er schwer in ihrer Hand.
Wieder ein Mädchen, diesmal glockenklar. Je größer die Telefone waren, desto klarer war offenbar die Stimme. »Zdravo, čuješ li me?«
»Ja, ich kann dich prima hören, aber was ist das für ein Ort hier?«
Die Stimme war fort, und ein anderes Telefon läutete. Es stand in einem Schlafzimmer mit einem Kronleuchter an der Decke und war so groß wie ein Hocker. Kalisha musste den Hörer mit beiden Händen abheben.
»Hallo, hoor je me?«
»Ja! Klar! Total gut sogar! Sprich mit mir!«
Das tat der Junge, der es diesmal war, nicht. Kein Wählton. Einfach weg.
Das nächste Telefon befand sich in einem Wintergarten mit einem großen Glasdach und war so groß wie der Tisch, auf dem es stand. Sein Läuten schmerzte in den Ohren. Es war, als würde es bei einem Rockkonzert durch einen Verstärker gejagt. Kalisha rannte mit ausgestreckten Armen und gehobenen Handflächen darauf zu, um den Hörer herunterzustoßen, nicht weil sie irgendeine Offenbarung erwartete, sondern um das Ding zum Schweigen zu bringen, bevor ihr die Trommelfelle platzten.
»Ciao!«, donnerte eine Jungenstimme. »Mi senti? MI SENTI?«
Das weckte Kalisha schließlich auf.
5
Sie war bei ihren Freunden, bei Avery, Nicky, George und Helen. Die schliefen noch, wenn auch unruhig. George und Helen stöhnten. Nicky murmelte etwas und streckte die Hände aus, wobei sie an das große Telefon dachte, auf das sie zugerannt war, um es zum Schweigen zu bringen. Avery wand sich hin und her; er keuchte etwas, was sie bereits gehört hatte: »Hoor je me? Hoor je me?«
Offenbar träumten die dasselbe, was Kalisha geträumt hatte, und wenn man bedachte, was sie jetzt alle waren – wozu das Institut sie gemacht hatte–, war das vollkommen logisch. Wenn sie schon eine Art Gruppenkraft erzeugten, bestehend aus Telepathie und Telekinese, weshalb sollten sie dann nicht denselben Traum haben? Die einzige Frage war, wer von ihnen damit angefangen hatte. Wahrscheinlich war das Avery gewesen, weil er am stärksten war.