Luke schwitzte heftig, und zwar nicht nur weil es eine feuchtheiße Nacht war. Er war froh, dass Tim ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte und dass Wendy besorgt zu ihm herüberblickte. Es fühlte sich gut an, nicht mehr allein zu sein. Bis jetzt war ihm eigentlich gar nicht klar gewesen, was für eine schwere Bürde das gewesen war.
Stackhouse stieß einen Seufzer aus, als sähe er sich ungebührlich unter Druck gesetzt. »Sprich weiter«, sagte er.
»Viertens: Sie werden einen Bus besorgen.«
»Einen Bus? Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
Luke beschloss, auf die Unterbrechung einzugehen, weil sie berechtigt war. Jedenfalls blickten Tim und Wendy sichtlich verblüfft drein.
»Bestimmt haben Sie überall Freunde, also sicher auch bei der Polizei in Dennison River Bend. Vielleicht gehören die Cops dort sogar alle dazu. Es ist Sommer, also haben die Kinder Ferien, und die Schulbusse dürften auf dem städtischen Parkplatz stehen, zusammen mit den Schneepflügen und Müllwagen und so weiter. Einer von Ihren Freunden bei der Polizei soll sich den Schlüssel von einem Bus mit mindestens vierzig Sitzen besorgen und ihn in die Zündung stecken. Dann kann einer von Ihren MTAs oder Pflegern damit zum Institut fahren. Dort stellt er den Bus an dem Fahnenmast vor dem Verwaltungsgebäude ab und lässt wieder den Schlüssel stecken. Haben Sie alles verstanden?«
»Ja.« Geschäftsmäßig. Jetzt ohne Widerspruch und Unterbrechungen, und obwohl Luke nicht über das psychologische Verständnis verfügte, das Tim als Erwachsener haben musste, war ihm klar, warum. Das Ganze, dachte Stackhouse sicher, war der hirnrissige Plan eines Kindes, kaum besser als reines Wunschdenken. Dasselbe sah Luke auf dem Gesicht von Tim und dem von Wendy. Mrs. Sigsby, die alles mithören konnte, hatte sichtlich Probleme, nicht das Gesicht zu verziehen.
»Es ist ein simpler Tausch. Sie bekommen den USB-Stick, ich bekomme die Kinder. Die aus dem Hinterbau und auch die aus dem Vorderbau. Wenn alle um zwei Uhr morgens startbereit sind, wird Officer Wendy den Mund halten. Das ist der Deal. Ach ja, als Dreingabe bekommen Sie auch noch Ihre verfluchte Chefin und Ihren verfluchten Doktor zurück.«
»Darf ich dir eine Frage stellen, Luke? Ist das zulässig?«
»Bitte.« Luke ahnte bereits, wie die Frage lauten würde. Es war eine, die er tatsächlich beantworten wollte.
»Sobald ihr fünfunddreißig bis vierzig Kinder in einen großen, gelben Schulbus mit Dennison River Bend an der Seite gestopft habt, wo wollt ihr dann mit denen hin? Und zwar in Anbetracht dessen, dass die meisten von denen absolut nichts mehr im Kopf haben?«
»Nach Disneyland«, sagte Luke.
Tim legte die Hand an die Stirn, als würde ihm plötzlich der Kopf dröhnen.
»Übrigens werden wir mit Officer Wendy in Kontakt bleiben. Bevor wir mit dem Flugzeug starten, nachdem wir gelandet sind, wenn wir zum Institut kommen und wenn wir von dort abfahren. Falls sie keine Anrufe mehr bekommt, wird sie selbst welche machen. Zuerst wird sie sich bei der State Police von Maine melden, dann beim FBI und beim Heimatschutzministerium. Kapiert?«
»Ja.«
»Gut. Noch was. Wenn wir ankommen, will ich, dass Sie uns erwarten. Mit ausgestreckten Armen, eine Hand auf der Kühlerhaube vom Bus, die andere am Fahnenmast. Sobald die Kids im Bus sind und mein Freund Tim am Lenkrad sitzt, übergebe ich Ihnen den USB-Stick von Maureen und steige selbst ein. Verstanden?«
»Ja.«
Kurz und knapp. Stackhouse versuchte sichtlich, nicht so zu klingen wie jemand, der das große Los gezogen hatte.
Er weiß, dass Wendy ein Problem darstellen könnte, dachte Luke, weil sie die Namen von allerhand vermissten Kindern kennt, aber er glaubt, das Problem lösen zu können. Der USB-Stick ist brisanter, weil man ihn nicht so leicht zu Fake News erklären kann. Und ich serviere ihm das Ding jetzt praktisch auf dem Silbertablett. Wie kann er das ablehnen? Antwort: Das kann er nicht.
»Luke…«, mischte sich Tim ein.
Luke schüttelte den Kopf: Nicht jetzt, während ich nachdenke.
Stackhouse weiß, dass seine Lage weiterhin schlecht ist, aber jetzt sieht er einen Lichtstrahl. Gott sei Dank hat Tim mich an etwas erinnert, was mir selbst hätte einfallen sollen – Sigsby und Stackhouse stellen nicht die oberste Ebene dar. Sie müssen selbst Vorgesetzte haben, Leute, gegenüber denen sie Rechenschaft ablegen müssen. Wenn alles gelaufen ist, kann Stackhouse denen sagen, es hätte noch viel schlimmer kommen können und sie sollten ihm sogar dankbar sein, dass er die Lage entschärft habe.
»Wirst du mich noch mal anrufen, bevor ihr abfliegt?«, fragte Stackhouse.
»Nein. Ich vertraue darauf, dass Sie alles arrangieren.« Obwohl Vertrauen nicht das erste Wort war, das Luke in den Sinn kam, wenn er an Stackhouse dachte. »Wenn wir das nächste Mal miteinander reden, stehen wir uns gegenüber, vor dem Institut. Am Flughafen wartet ein Van, am Fahnenmast ein Bus. Falls Sie irgendwas verbocken, greift Officer Wendy zum Telefon und berichtet, was sie zu berichten hat. Bis dann.«
Er legte auf und sackte in sich zusammen.
7
Tim reichte Wendy die Pistole und deutete auf die beiden Gefangenen. Wendy nickte. Da sie jetzt Wache stand, konnte Tim Luke beiseiteziehen. Er stellte sich mit ihm an den Zaun in den Schatten, den ein Magnolienbaum warf.
»Luke, das kann doch nie im Leben klappen. Vielleicht wartet dort am Flughafen wirklich ein Wagen auf uns, aber wenn es in diesem Institut so zugeht, wie du’s erzählt hast, wird man uns dort auflauern und umbringen. Deine Freunde und die anderen Kinder wird man auch töten. Dann ist nur noch Wendy übrig. Die tut sicher, was sie kann, aber es wird trotzdem Tage dauern, bis jemand da oben aufkreuzt – ich weiß nur zu gut, wie die Behörden reagieren, wenn etwas Ungewöhnliches auftaucht. Und wenn man das Institut findet, wird es bis auf die Leichen leer sein. Falls die nicht ebenfalls verschwunden sind. Du sagst ja, die haben ein Entsorgungssystem für die…« Tim wusste nicht recht, wie er es ausdrücken sollte. »Für die verbrauchten Kinder.«
»Das ist mir alles völlig klar«, sagte Luke. »Aber es geht nicht um uns, sondern um sie. Um die Kinder. Es geht mir bloß darum, Zeit zu gewinnen, weil dort irgendwas vor sich geht. Und nicht nur dort.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich bin jetzt stärker, obwohl wir mehr als tausend Meilen vom Institut entfernt sind«, sagte Luke. »Trotzdem bin ich ein Teil von den Kindern dort, und es sind nicht mehr bloß die. Sonst hätte ich die Waffe von dem Typen niemals an die Decke richten können, indem ich daran gedacht hab. Früher war ich auf leere Pizzableche spezialisiert, erinnerst du dich?«
»Luke, ich glaube einfach nicht…«
Luke konzentrierte sich. Kurz sah er ein Bild des Telefons im Flur seines Elternhauses. Es läutete, und wenn er abhob, würde jemand fragen: »Hörst du mich?« Dann verschwand das Bild, und er sah die farbigen Blitze und hörte ein leises Summen. Die Blitze waren eher matt als grell, was gut war. Er wollte sie Tim nämlich zeigen, ohne ihm wehzutun… was nur zu leicht hätte geschehen können.
Wie von unsichtbaren Händen gestoßen, taumelte Tim vorwärts an den Maschendrahtzaun und hob gerade noch rechtzeitig die Unterarme, um sich nicht das Gesicht zu verletzen.
»Tim?«, rief Wendy.
»Nichts passiert«, sagte Tim. »Pass nur weiter auf die beiden auf, Wendy.« Er sah Luke an. »Warst du das?«
»Es kam nicht von mir, es ging nur durch mich hindurch«, sagte Luke. Weil sie jetzt Zeit hatten (wenigstens ein bisschen) und weil er neugierig war, fragte er: »Wie war es denn?«
»Wie ein starker Windstoß.«
»Natürlich war es stark«, sagte Luke. »Weil wir gemeinsam stärker sind. Sagt jedenfalls Avery.«