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»In Ordnung«, sagte Stackhouse. »Sie sind dabei. Ich kann jede Hilfe brauchen.« Allerdings würde er sich gut überlegen müssen, wie er Rosalind einsetzte, denn eventuell war es nicht möglich, Julia zu retten. Die war jetzt entbehrlich geworden. Wichtig waren allein der USB-Stick und dieser verfluchte, allzu kluge Junge.

»Danke, Sir. Ich werde Sie nicht enttäuschen.«

»Davon bin ich überzeugt, Rosalind. Ich werde Ihnen jetzt erklären, wie sich das Ganze voraussichtlich abspielen wird, aber zuerst habe ich eine Frage.«

»Ja, bitte?«

»Ich weiß, dass man das als Gentleman niemals fragt und als Dame niemals verrät, aber wie alt sind Sie eigentlich?«

»Achtundsiebzig, Sir.« Die Antwort kam ziemlich prompt, und Rosalind hielt den Blickkontakt aufrecht, aber es war eine Lüge. In Wirklichkeit war Rosalind Dawson bereits einundachtzig.

10

Viertel vor zwölf.

Die Challenger mit der Aufschrift 940NF am Heck und mit MAINE PAPER INDUSTRIES am Rumpf bewegte sich auf einer Flughöhe von 12000 Metern auf Maine zu. Durch den von hinten kommenden Jetstream schwankte die Geschwindigkeit leicht zwischen 520 und 550 Meilen pro Stunde.

Die Ankunft der Gruppe in Alcolu und der darauffolgende Abflug waren reibungslos verlaufen, vor allem weil Mrs. Sigsby einen VIP-Ausweis des Flughafenbetreibers Regal Air besaß und gern bereit war, diesen am Tor vorzuzeigen. Sie roch eine Chance – immer noch klein, aber vorhanden–, lebend aus der Sache herauszukommen. Die Challenger stand in einsamer Pracht und mit ausgeklappter Gangway auf dem Rollfeld. Nachdem Tim die Gangway eingezogen und die Tür gesichert hatte, hämmerte er mit dem Griff von Tag Faradays Pistole an die geschlossene Cockpittür.

»Ich glaube, wir sind so weit hier hinten. Wenn bei euch alles klar ist, können wir starten.«

Von der anderen Seite der Tür kam keine Antwort, aber die Triebwerke liefen an. Zwei Minuten später waren sie bereits in der Luft. Inzwischen befanden sie sich laut dem Monitor an der Trennwand zum Cockpit irgendwo über West Virginia und hatten DuPray weit hinter sich gelassen. Tim hätte nicht erwartet, so plötzlich abzureisen und schon gar nicht unter derart extremen Umständen.

Evans döste, Luke war in Tiefschlaf versunken. Nur Mrs. Sigsby war noch wach. Sie saß stocksteif da und hatte den Blick auf Tims Gesicht gerichtet. Ihre weit offenen, ausdruckslosen Augen hatten etwas Reptilienhaftes an sich. Womöglich hätte die letzte Schmerztablette von Doc Roper sie schachmatt gesetzt, aber die hatte sie trotz offenkundig ziemlich starken Schmerzen verweigert. Eine ernsthafte Schusswunde war ihr erspart geblieben, aber selbst ein Streifschuss tat mächtig weh.

»Offenbar waren Sie früher bei der Polizei«, sagte sie. »Das sehe ich an Ihrer Körperhaltung und daran, wie Sie reagiert haben – schnell und effizient.«

Tim erwiderte nichts, sondern sah sie nur an. Er hatte die Glock auf den Sitz neben sich gelegt. In zwölftausend Meter Höhe einen Schuss abzufeuern wäre eine ganz schlechte Idee, aber wieso sollte er dazu gezwungen sein, selbst in einer wesentlich geringeren Höhe? Schließlich brachte er dieses Biest genau dahin, wo es hinwollte.

»Ich verstehe überhaupt nicht, weshalb Sie dem Plan zugestimmt haben.« Sie deutete mit dem Kinn auf Luke, der mit seinem lädierten Gesicht und seinem bandagierten Ohr wesentlich jünger als zwölf wirkte. »Wir wissen doch beide, dass er nur seine Freunde retten will, und ich glaube, wir wissen ebenfalls beide, dass sein Plan töricht ist. Genauer gesagt idiotisch. Dennoch haben Sie zugestimmt. Weshalb, Tim?«

Tim sagte nichts.

»Mir ist schon unbegreiflich, dass Sie sich überhaupt eingemischt haben. Wollen Sie mir nicht auf die Sprünge helfen?«

Er hatte nicht die Absicht. Zu den ersten Tipps, die sein Betreuer ihm in seinen vier Monaten Probezeit bei der Polizei gegeben hatte, gehörte: Du befragst Straftäter, lässt aber nie zu, dass sie dich befragen.

Selbst wenn er zum Reden aufgelegt gewesen wäre, hätte er nichts sagen können, was auch nur einigermaßen rational geklungen hätte. Hätte er ihr erklären sollen, dass es reiner Zufall war, dass er sich jetzt in einem exklusiven Flugzeug befand, wie es sonst nur reiche Männer und Frauen von innen zu Gesicht bekamen? Dass er vor einer gefühlten Ewigkeit in einer wesentlich gewöhnlicheren Maschine direkt vor dem Abflug nach New York unvermittelt aufgestanden war und sich bereit erklärt hatte, seinen Sitz für Bares und einen Hotelgutschein zur Verfügung zu stellen? Dass alles – die Fahrt per Autostopp nach Norden, der Verkehrsstau auf der I-95, die Wanderung nach DuPray und der Job als Nachtklopfer – eine Folge dieser einen impulsiven Tat gewesen war? Oder sollte er sagen, das Schicksal hätte es so gewollt? Dass er von der Hand irgendeines kosmischen Schachspielers nach DuPray versetzt worden war, um den jetzt da drüben schlafenden Jungen vor Leuten zu retten, die ihn gekidnappt hatten und sich sein außergewöhnliches Gehirn zunutze machen wollten, bis es aufgebraucht war? Und wenn es sich so verhielt, was waren dann Sheriff John, Tag Faraday, George Burkett, Frank Potter und Bill Wicklow? Nur Bauern, die bei einem großen Spiel geopfert werden mussten? Und welche Schachfigur war er selbst? Er hätte sich ja gern für einen Turm gehalten, aber wahrscheinlich war auch er nur ein Bauer.

»Wollen Sie nicht doch die letzte Schmerztablette nehmen?«, fragte er.

»Sie haben nicht vor, meine Frage zu beantworten, nicht wahr?«

»Nein, Ma’am, das habe ich tatsächlich nicht vor.« Tim drehte den Kopf, um in die weite Dunkelheit hinauszublicken. Tief unter ihm funkelten einige Lichter wie Glühwürmchen am Grunde eines Brunnenschachts.

11

Mitternacht.

Das kastenförmige Spezialhandy gab sein heiseres Krächzen von sich. Stackhouse hob ab. Die Stimme am anderen Ende gehörte einem momentan nicht im Dienst befindlichen Pfleger namens Ron Church. Der angeforderte Van stehe am Flughafen, berichtete Church. Denise Allgood, eine ebenfalls gerade nicht Dienst tuende MTA (obwohl jetzt eigentlich alle im Dienst sein sollten), war Church mit einem Pkw des Instituts gefolgt. Nachdem Church den Van abgestellt hatte, hätte er eigentlich mit Denise ins Institut kommen sollen, aber die beiden waren miteinander verbandelt, was Stackhouse bekannt war. Es war schließlich seine Aufgabe, Bescheid zu wissen. Deshalb war anzunehmen, dass Ron und Denise sich nach erledigter Aufgabe woandershin begeben würden anstatt hierher. Das war in Ordnung. Obgleich es traurig war, wie viele desertierten, war es vielleicht am besten so. Es war an der Zeit, einen Schlussstrich unter die Operation zu ziehen. Zum letzten Akt würden genügend von seinen Leuten dableiben, und das war alles, worauf es ankam.

Luke und sein Freund Tim waren erledigt, da war Stackhouse sich absolut sicher. Dem lispelnden Mann am anderen Ende des Nullfons würde das entweder ausreichen oder nicht. Das lag nicht mehr in seiner Hand, was in gewisser Hinsicht eine Erleichterung war. Wahrscheinlich hatte er diese fatalistische Ader seit seinen Tagen im Irak und in Afghanistan wie ein schlummerndes Virus mit sich herumgetragen und erst jetzt als solches erkannt. Er würde tun, was ihm möglich war, mehr konnte man von niemand verlangen. Die Hunde bellten, und die Karawane zog weiter.

Es klopfte an der Tür, und im nächsten Moment blickte Rosalind herein. Sie hatte etwas mit ihren Haaren gemacht, was eine Verbesserung darstellte. Weniger sicher war er sich im Hinblick auf das Schulterholster, das sie jetzt trug. Damit sah sie so surreal aus wie ein Hund mit einem Partyhut.

»Gladys ist da, Mr. Stackhouse.«

»Schicken Sie sie rein.«

Gladys trat durch die Tür. Unter ihrem Kinn baumelte eine Gasmaske; ihre Augen waren gerötet. Da sie bestimmt nicht geweint hatte, stammte die Reizung wohl von dem Gebräu, das sie zusammengemischt hatte. »Das Zeug ist fertig«, sagte sie. »Ich muss nur noch den WC-Reiniger hinzufügen. Sobald Sie die Anweisung erteilen, Mr. Stackhouse, vergasen wir die da unten.« Sie schüttelte kurz und heftig den Kopf. »Ich kann es kaum erwarten. Dieses Summen treibt mich in den Wahnsinn.«