Eileen befahl ihren Augen, sich nicht mit Tränen zu füllen, doch das taten sie natürlich trotzdem. Herb reichte ihr eine Papierserviette. »Mr. Greer hat…äh«, sagte sie. »Einen Plan entworfen, könnte man wohl sagen… laut dem wir möglicherweise… Na ja…«
»Liebe Eltern, wer will das letzte Stück?«, sagte Luke.
»Greif nur zu«, sagte Herb. »Vielleicht platzt du trotzdem nicht, bevor du die Chance hast, diesen irren College-Plan durchzuziehen.«
»College zu dritt«, sagte Luke und lachte. »Er hat euch von den reichen Ehemaligen erzählt, stimmt’s?«
Eileen legte die Papierserviette weg. »Meine Güte, Lukey, du hast mit deinem Beratungslehrer über die finanziellen Möglichkeiten deiner Eltern gesprochen? Wer sind eigentlich die Erwachsenen hier? Allmählich ist mir das nicht mehr so recht klar.«
»Beruhige dich, Mamacita, es ist alles völlig einleuchtend. Wobei ich zuerst an das Stiftungsvermögen gedacht habe. Das von der Schule ist gewaltig, weshalb sie euch damit ohne Weiteres den Umzug bezahlen könnten, aber dem würden die Treuhänder niemals zustimmen, obwohl es logisch wäre.«
»Wäre es das?«, fragte Herb.
»Und ob!« Luke kaute begeistert, schluckte und schlürfte Cola. »Ich bin nämlich eine Investition. Eine Aktie mit bestem Wachstumspotenzial. Schließlich muss man sein Geld vermehren, oder etwa nicht? So funktioniert Amerika. Das würden die Treuhänder auch kapieren, kein Problem, aber sie können sich trotzdem nicht aus dem kognitiven Kerker befreien, in dem sie stecken.«
»Was für ein kognitiver Kerker?«, fragte sein Vater.
»Na, du weißt schon. Ein Kerker, der als Resultat der angestammten Dialektik entstanden ist. Vielleicht ist es sogar ein Ausdruck von Stammesdenken, obwohl es ziemlich absurd ist, sich einen Stamm von Treuhändern vorzustellen. Jedenfalls denken die: ›Wenn wir das für ihn tun, dann müssen wir das auch für andere Schüler tun.‹ Das ist der kognitive Kerker. Der wird sozusagen von Generation zu Generation weitergereicht.«
»Überliefertes Wissen eben«, sagte Eileen.
»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Mama. Deshalb werden die Treuhänder diesen Fall den reichen Ehemaligen überlassen, die irrsinnig Geld gescheffelt haben, weil sie ihr Denken nicht einkerkern, und die ihre alte Schule immer noch heiß und innig lieben. Als Verbindungsmann wird Mr. Greer dienen, wenigstens hoffe ich das. Der Deal läuft darauf hinaus, dass sie jetzt mir helfen, und ich helfe später der Schule, wenn ich reich und berühmt bin. Das will ich zwar gar nicht werden, ich bin durch und durch Mittelschicht, aber vielleicht werde ich trotzdem reich, als Nebeneffekt sozusagen. Vorausgesetzt natürlich, dass ich mir keine krasse Krankheit zuziehe oder bei einem Terroranschlag ums Leben komme und so weiter.«
»Sag nicht solche Dinge, das bringt Unglück«, sagte Eileen und machte über dem mit Essensresten übersäten Tisch das Kreuzzeichen.
»Reiner Aberglaube, Mama«, sagte Luke nachsichtig.
»Lass mich einfach machen. Und wisch dir den Mund ab. Da klebt Tomatensoße. Sieht aus, als würde dein Zahnfleisch bluten.«
Luke wischte sich den Mund ab.
Herb sagte: »Laut Mr. Greer wären bestimmte Leute unter Umständen tatsächlich bereit, uns den Umzug zu bezahlen und uns sechzehn Monate lang finanziell zu unterstützen.«
»Hat er euch auch gesagt, dass dieselben Leute, die euch finanzieren würden, dir auch helfen könnten, einen neuen Job zu finden?« Lukes Augen funkelten. »Einen besseren? Weil einer von den Ehemaligen jemand namens Douglas Finkel ist. Der ist der Besitzer von American Paper Products, und das ist ja in etwa deine Domäne. Deine Disziplin. Da bist du wie ein Fisch im…«
»Ja, von Finkel war tatsächlich die Rede«, unterbrach ihn Herb. »Allerdings bloß spekulativ.«
»Außerdem…« Mit strahlender Miene wandte Luke sich an seine Mutter. »Was Lehrer angeht, herrscht in Boston derzeit ein gewaltiger Bedarf. Das durchschnittliche Anfangsgehalt für jemand mit deiner Erfahrung beträgt fünfundsechzigtausend Dollar.«
»Sag mal, woher weißt du das eigentlich alles?«, fragte Herb.
Luke zuckte die Achseln. »Normalerweise fange ich erst mal mit Wikipedia an. Dann rufe ich die Quellen auf, die in den Artikeln angegeben sind. Im Grunde geht es darum, auf dem Laufenden zu bleiben, was das eigene Milieu betrifft. Mein Milieu ist die Schule. Die Treuhänder kenne ich alle persönlich, wer die betuchten Ehemaligen sind, musste ich recherchieren.«
Elaine griff über den Tisch, nahm ihrem Sohn das letzte Stück Pizza aus der Hand und legte es zu den übrig gebliebenen Krustenstücken auf das Blech zurück. »Lukey, selbst wenn das klappen sollte, würdest du denn deine Freunde nicht vermissen?«
Seine Miene verdüsterte sich. »Doch. Vor allem Rolf. Maya ebenfalls. Offiziell dürfen wir zwar kein Mädchen fragen, ob sie mit uns zum Frühlingsball geht, aber inoffiziell ist sie mein Date. Da hast du also recht. Aber!«
Die beiden warteten. Ihr Sohn, sonst immer beredt und oft redselig, schien jetzt Probleme zu haben, die richtigen Worte zu finden. Er setzte an, hielt inne, setzte noch einmal an und hielt wieder inne. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll«, brachte er schließlich heraus. »Weiß nicht mal, ob ich es überhaupt sagen kann.«
»Versuch’s einfach«, sagte Herb. »In Zukunft werden wir viele wichtige Gespräche führen, aber das hier ist bisher das wichtigste. Also versuch’s.«
Am Eingang des Restaurants legte Richie Rocket mit seinem stündlichen Auftritt los. Er tanzte zu den Klängen von »Mambo Number 5«. Eileen sah, wie die in einen silbernen Raumanzug gehüllte Gestalt mit ihren behandschuhten Händen winkte. Von den Tischen in der Nähe standen mehrere kleine Kinder auf, gesellten sich zu Richie und bewegten sich lachend zur Musik, während ihre Eltern Fotos machten und applaudierten. Es war nicht allzu lange her – fünf kurze Jahre–, da hatte Lukey selbst zu diesen Kindern gehört. Jetzt sprachen sie mit ihm über geradezu unglaubliche Veränderungen. Eileen hatte keine Ahnung, warum ausgerechnet sie beide – ganz normale Leute mit normalen Ambitionen und Erwartungen – ein Kind wie Luke bekommen hatten, und manchmal wünschte sie sich, es wäre anders. Manchmal hasste sie die Rolle, die ihnen zugewiesen worden war, aber Lukey hatte sie noch nie gehasst und würde das auch nie tun. Er war ihr Kind, ihr Ein und Alles.
»Luke?«, sagte Herb. Er sprach ganz leise. »Was ist?«
»Es geht einfach darum, was als Nächstes kommt«, sagte Luke. Er hob den Kopf und sah die beiden direkt an. In seinen Augen lag ein Strahlen, das seine Eltern nur selten zu sehen bekamen. Dieses Strahlen verbarg er vor ihnen, weil es ihnen auf eine Weise Angst machte, wie ein paar klappernde Teller es nicht schafften. »Erkennt ihr es nicht? Es geht darum, was als Nächstes kommt. Ich will aufs College… und etwas lernen… und dann den nächsten Schritt tun. So ein Studium ist wie die Schule, in der ich jetzt bin. Nicht das Ziel, sondern nur ein Schritt auf dem Weg zum Ziel.«
»Was ist das für ein Ziel, Schatz?«, fragte Eileen.
»Das weiß ich nicht. Es gibt so vieles, was ich lernen und herausbekommen will. Da ist etwas in meinem Kopf, was irgendwie nach allem greift… und manchmal gibt es sich zufrieden, aber meistens nicht. Manchmal fühle ich mich so klein… so verdammt beschränkt…«
»Nein, Schatz. Beschränkt bist du bestimmt nicht.« Eileen griff nach seiner Hand, aber er entzog sich ihr und schüttelte den Kopf. Das Pizzablech auf dem Tisch zitterte. Die Krustenstücke bebten.
»Ich spüre einen Abgrund, wisst ihr? Manchmal träume ich davon. Er ist unendlich tief und gefüllt mit all den Dingen, die ich nicht weiß. Mir ist zwar nicht klar, wie ein Abgrund gefüllt sein kann – das ist ein Oxymoron–, aber so ist es eben. Deshalb fühle ich mich klein und beschränkt. Aber es führt eine Brücke darüber, die ich betreten will. Ich will in ihrer Mitte stehen und die Hände heben…«