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Rosalind würde er anweisen, in Ebene F vor der Tür zum Tunnel Wache zu halten. Schließlich sollte sie keine Chance haben zu sehen, wie ihre langjährige, geliebte Chefin mitten in den Kugelhagel geriet, aber das war nicht der einzige Grund. Stackhouse wusste genau, dass das konstante Summen eine bestimmte Kraft darstellte. Vielleicht war die noch nicht stark genug, die Tür aufzubrechen, aber das war nicht sicher. Womöglich warteten die da unten nur, bis ihr kleiner Freund Ellis eintraf, damit sie von hinten angreifen und dasselbe Chaos verursachen konnten, das sie im Hinterbau angerichtet hatten. Die Rüben hatten zwar nicht mehr genügend Hirn, sich so etwas auszudenken, aber da waren ja noch die anderen. Falls das also geschah, würde Rosalind mit ihrer Smith & Wesson dastehen, und die Ersten, die durch die Tür kamen, würden sich wünschen, dahinter geblieben zu sein. Hoffentlich würde dieser verfluchte Wilholm den Angriff leiten.

Ob ich wohl bereit für das bin, was jetzt geschehen wird, fragte er sich, und die Antwort schien ja zu lauten. So bereit, wie er sein konnte. Vielleicht lief ja doch alles glatt. Die von außen kommende Gefahr bestand schließlich nur aus Ellis. Aus einem Kind und irgendeinem irregeleiteten Helden, den dieses Kind unterwegs aufgegabelt hatte. In etwa neunzig Minuten würde der ganze Schwachsinn vorüber sein.

15

Drei Uhr. Das Summen war jetzt lauter.

»Stopp«, sagte Luke. »Hier abbiegen.« Er deutete auf einen von riesigen alten Tannen beschirmten Waldweg, dessen Mündung kaum sichtbar war.

»Bist du da langgekommen, als du geflohen bist?«, fragte Tim.

»Um Himmels willen, nein. Sonst hätten sie mich geschnappt.«

»Woher weißt du dann…«

»Die da weiß es«, sagte Luke. »Und weil sie es weiß, weiß ich es auch.«

Tim wandte sich an Mrs. Sigsby. »Kommt irgendwo ein Tor?«

»Fragen Sie doch ihn.« Sie spuckte die Worte geradezu aus.

»Kein Tor«, sagte Luke. »Nur ein großes Schild, auf dem was von einer Experimentalstation von Maine Paper Industries steht. Und dass der Zutritt verboten ist.«

Über den zutiefst frustrierten Ausdruck auf dem Gesicht von Mrs. Sigsby musste Tim lächeln. »Der Junge sollte mal zur Polizei gehen, meinen Sie nicht, Mrs. Sigsby? Der würde jedes Alibi durchschauen.«

»Fahren Sie nicht da hin«, sagte sie. »Sonst wird man uns alle drei umbringen. Stackhouse macht vor nichts halt.« Sie blickte Luke über die Schulter hinweg an. »Du kannst Gedanken lesen, daher weißt du, dass ich die Wahrheit sage, also mach ihm das klar.«

Luke sagte nichts.

»Wie weit ist es denn noch bis zu Ihrem Institut?«, fragte Tim.

»Zehn Meilen«, sagte Mrs. Sigsby. »Vielleicht ein bisschen mehr.« Offenbar hatte sie mittlerweile kapiert, dass es sinnlos war, querzuschießen.

Tim bog ab. Sobald sie die großen Bäume hinter sich gelassen hatten, deren Zweige über das Dach und die Seiten des Wagens strichen, war der Weg eben und gut in Schuss. Der zu drei Vierteln volle Mond schien durch die Lücken im Wald und färbte den Boden knochenbleich. Tim schaltete die Scheinwerfer aus und fuhr weiter.

16

Zwanzig nach drei.

Um Kalishas Handgelenk schlossen sich die kalten Finger von Avery Dixon. Sie hatte gedöst, an Nickys Schulter gelehnt. Jetzt hob sie den Kopf. »Ja, Avester?«

Weck sie auf. Helen und George und Nicky. Weck die alle auf.

»Warum…«

Wenn du überleben willst, weckst du sie auf. Es ist bald so weit.

Nicky Wilholm war bereits wach. »Können wir denn überhaupt überleben?«, fragte er. »Hältst du das für möglich?«

»Ich höre euch da drin!« Das war die Stimme von Rosalind auf der anderen Seite der Tür. Sie klang nur leicht gedämpft. »Worüber redet ihr da? Und wieso summt ihr?«

Während Kalisha George und Helen wach rüttelte, sah sie die farbigen Blitze wieder. Die waren zwar schwach, aber sie waren da. Sie sausten an den Tunnelwänden auf und ab wie Kinder auf einer Rutsche, was ganz gut passte, denn in gewisser Weise waren es ja Kinder, oder etwa nicht? Beziehungsweise das, was von denen übrig geblieben war. Es waren sichtbar gewordene Gedanken, die zwischen den umherwandernden Kindern aus Station A herumhüpften, im Kreis sausten, tanzten und Pirouetten drehten. Und sahen diese Kinder jetzt nicht lebendiger aus? Wenigstens ein bisschen? Den Eindruck hatte Kalisha, aber vielleicht war das bloß Einbildung. Oder Wunschdenken. Im Institut gewöhnte man sich Wunschdenken an. Man lebte geradezu davon.

»Ich hab nämlich eine Pistole!«

»Ich auch, Lady«, sagte George. Er fasste sich in den Schritt, dann wandte er sich an Avery. Was läuft, du Miniboss?

Avery blickte einen nach dem anderen an, und Kalisha sah, dass er weinte. Dabei wurde ihr so flau im Magen, als ob sie etwas Schlechtes gegessen hätte und sich übergeben müsste.

Wenn es so weit ist, müsst ihr ganz schnell los.

Helen: Wenn was so weit ist, Avery?

Wenn ich zum großen Telefon greife.

Nicky: Mit wem willst du denn sprechen?

Mit den anderen Kids. Mit denen, die weit weg sind.

Kalisha deutete mit dem Kinn auf die Tür. Die Frau da draußen ist bewaffnet.

Avery: Darüber müsst ihr euch keine Sorgen machen. Lauft einfach los. Ihr alle.

»Wir«, sagte Nicky. »Wir, Avery. Wir laufen gemeinsam los.«

Avery schüttelte den Kopf. Kalisha versuchte, in diesen Kopf einzudringen, um herauszufinden, was da drin vor sich ging und was Avery wusste, doch alles, was sie fand, waren vier Wörter, die sich unablässig wiederholten.

Ihr seid meine Freunde. Ihr seid meine Freunde. Ihr seid meine Freunde.

17

»Sie sind seine Freunde, aber er kann nicht mit ihnen rausgehen«, sagte Luke.

»Wer kann nicht mit wem rausgehen?«, fragte Tim. »Von wem redest du da?«

»Von Avery. Der muss dableiben. Er ist derjenige, der mit dem großen Telefon anrufen muss.«

»Ich hab keine Ahnung, was das bedeuten soll, Luke.«

»Ich will sie rausholen, aber ihn auch!«, rief Luke. »Ich will sie alle retten! Das ist nicht fair!«

»Er ist wahnsinnig«, sagte Mrs. Sigsby. »Allmählich muss Ihnen doch klar sein, dass…«

»Schnauze!«, sagte Tim. »Das war die letzte Verwarnung!«

Sie drehte den Kopf, sah seinen Gesichtsausdruck und gehorchte.

Tim lenkte den Wagen langsam über eine Kuppe und stoppte. Ein Stück weiter vorn wurde der Weg breiter. Zwischen den Bäumen sah er Lichter und den dunklen Umriss eines Gebäudes.

»Ich glaube, wir sind da«, sagte er. »Luke, ich weiß zwar nicht, was gerade mit deinen Freunden geschieht, aber das haben wir nicht in der Hand. Trotzdem musst du dich jetzt zusammennehmen. Schaffst du das?«

»Ja«, sagte Luke heiser. Er räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Ja. Okay.«

Tim stieg aus, ging zur Beifahrertür und zog sie auf.

»Was nun?«, fragte Mrs. Sigsby. Sie klang verdrossen und ungeduldig, doch selbst in dem schwachen Licht sah Tim, dass sie Angst hatte. Wofür es gute Gründe gab.

»Steigen Sie aus. Den restlichen Weg sitzen Sie am Steuer. Ich setze mich nach hinten zu Luke, und falls Sie irgendwelche Tricks versuchen sollten, wie beispielsweise an einen Baum zu fahren, bevor wir zu den Lichtern da kommen, schieße ich durch die Lehne direkt in Ihre Wirbelsäule.«