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»Nein. Nein!«

»Doch. Wenn es stimmt, was Sie den Kindern angetan haben, dann haben Sie eine gewaltige Schuld auf sich geladen. Die ist jetzt fällig. Steigen Sie aus, setzen Sie sich ans Lenkrad und fahren Sie los. Langsam. Schritttempo.« Er machte eine kurze Pause. »Und drehen Sie den Mützenschirm nach hinten.«

18

Andy Fellowes rief aus dem EDV- und Überwachungsraum an. Seine Stimme klang schrill und aufgeregt. »Sie sind da, Mr. Stackhouse! Sie haben etwa hundert Meter vor der Stelle angehalten, wo die Straße zur Einfahrt wird! Die Scheinwerfer sind ausgeschaltet, aber das Licht vom Mond und von den Fenstern hier reicht aus, dass man was sehen kann. Soll ich Ihnen das Bild auf den Monitor schicken, damit Sie selbst…«

»Nicht nötig.« Stackhouse warf das Festnetztelefon auf den Tisch, bedachte das Nullfon mit einem letzten Blick – es hatte sich nicht gemeldet, Gott sei Dank – und eilte zur Tür. Sein Funkgerät steckte in der Hosentasche, auf die höchste Stufe gedreht und mit dem Knopf in seinem Ohr verbunden. Alle seine Leute hatten denselben Kanal eingestellt.

»Zeke?«

»Bin da, Chef. Mit Dr. Richardson.«

»Doug? Chad?«

»Auf dem Posten.« Das war Doug der Koch. Der sich an besseren Tagen gelegentlich beim Abendessen zu den Kindern gesetzt und ihnen Zaubertricks vorgeführt hatte, bei denen die Kleineren gelacht hatten. »Wir sehen schon das Fahrzeug. Ein schwarzer Neunsitzer. Suburban oder Tahoe, stimmt’s?«

»Stimmt. Gladys?«

»Auf dem Dach, Mr. Stackhouse. Das Zeug ist bereit. Muss nur noch die Zutaten mischen.«

»Fangen Sie an, falls Sie Schüsse hören.« Wobei die Frage jetzt nicht mehr lautete, ob das passieren würde, sondern nur wann, und bis dahin waren es jetzt sicher nur noch drei oder vier Minuten. Vielleicht weniger.

»Alles klar«, sagte Gladys.

»Rosalind?«

»Auf meinem Posten. Das Summen ist sehr laut hier unten. Ich glaube, die hecken was aus.«

Daran zweifelte Stackhouse nicht, aber lange würden sie das nicht mehr tun. Sie würden nämlich zu sehr damit beschäftigt sein zu ersticken. »Halten Sie durch, Rosalind. Bald sitzen Sie wieder in Boston bei einem Red-Sox-Spiel.«

»Wie wär’s, wenn Sie mitkommen, Sir?«

»Nur wenn ich die Yankees anfeuern darf.«

Stackhouse trat ins Freie. Nach dem heißen Tag war die Nachtluft angenehm kühl. Er spürte, wie ihn eine Welle der Zuneigung für sein Team überkam. Für alle diejenigen, die bei ihm geblieben waren. Die würden auf jeden Fall belohnt werden, wenn er da etwas mitzureden hatte. Es war eine schwere Pflicht, und sie waren dageblieben, um sie zu erfüllen. Der Mann am Lenkrad des Suburbans hatte sich in die Irre führen lassen. Er begriff nicht – konnte es gar nicht begreifen–, dass das Leben von allen Menschen, die er je geliebt hatte, davon abhing, was hier im Institut geleistet worden war. Allerdings war es damit jetzt vorbei. Und der irregeleitete Held konnte nur noch sterben.

Stackhouse ging auf den Schulbus zu, der am Fahnenmast stand, und meldete sich zum letzten Mal bei seiner Truppe. »Schützen, ihr konzentriert euch zuerst auf den Fahrer, verstanden? Auf den, der seine Mütze mit dem Schirm nach hinten trägt. Anschließend bestreicht ihr das ganze verfluchte Ding von vorne bis hinten. Zielt hoch auf die Fenster, und zertrümmert die Scheiben, damit ihr die Köpfe erwischt. Bitte bestätigen!«

Das taten sie.

»Eröffnet das Feuer aber erst, wenn ich die Hand hebe. Ich wiederhole, wenn ich die Hand hebe.«

Er stellte sich vor den Bus und legte die rechte Hand auf das kühle, mit Tautropfen überzogene Blech. Mit der Linken ergriff er den Fahnenmast. Dann wartete er.

19

»Losfahren«, sagte Tim. Er duckte sich hinter dem Fahrersitz auf den Boden. Luke lag unter ihm.

»Bitte zwingen Sie mich nicht dazu«, sagte Mrs. Sigsby. »Wenn ich Ihnen nur endlich erklären dürfte, weshalb dieser Ort so wichtig ist…«

»Losfahren.«

Sie fuhr los. Die Lichter kamen näher. Jetzt konnte Mrs. Sigsby den Bus sehen und den Fahnenmast. Und Trevor, der dazwischenstand.

20

Es ist so weit, sagte Avery.

Er hatte sich darauf gefasst gemacht, Angst zu haben, da er dauernd Angst hatte, seit er in einem Zimmer aufgewacht war, das wie sein Zimmer zu Hause aussah, es aber nicht war. Und nachdem er von Harry Cross zu Boden gestoßen worden war, hatte er noch mehr Angst bekommen. Jetzt aber hatte er keine mehr. Er fühlte sich regelrecht beschwingt. Seine Mutter hatte beim Putzen immer ein Lied auf der Stereoanlage gehört, und jetzt fiel ihm eine Zeile davon ein: I shall be released.

Er ging zu den Kindern aus Station A hinüber, die bereits einen Kreis bildeten. Kalisha, Nicky, George und Helen folgten ihm. Avery streckte die Hände zur Seite aus. Kalisha ergriff die eine, Iris die andere – die arme Iris, die sie vielleicht hätten retten können, wenn es nur einen Tag früher so weit gewesen wäre.

Die Frau, die vor der Tür Wache stand, rief etwas, eine Frage, aber die ging im Summen verloren. Die Blitze tauchten auf, jetzt nicht mehr matt, sondern hell, und sie wurden immer heller. Bald füllten die Stass-Lichter das Zentrum des Kreises; sie drehten sich spiralförmig wie die Streifen auf einer Friseurstange, sie stiegen auf und nieder, als kämen sie aus einem tief in der Erde verborgenen Kraftort, wohin sie immer wieder zurückkehrten, um erneut emporzusteigen, erfrischt und stärker denn je.

MACHT DIE AUGEN ZU.

Das war kein bloßer Gedanke mehr, sondern ein gewaltiger Ruf, vom Summen getragen.

Avery blickte in die Runde, um sich zu vergewissern, dass die anderen ihm gehorchten, dann schloss er selbst die Augen. Er hätte erwartet, sein Zimmer zu Hause zu sehen oder vielleicht den Garten mit der Schaukel und dem aufblasbaren Pool, den sein Vater immer Ende Mai aufpumpte, doch das tat er nicht. Was er hinter seinen geschlossenen Augen sah – was sie alle sahen–, war der Spielplatz des Instituts. Vielleicht hätte ihn das nicht überraschen sollen, denn dort war er zwar zu Boden gestoßen worden und hatte weinen müssen, was ein schlechter Anfang für diese letzten Wochen seines Lebens gewesen war, aber außerdem hatte er Freunde gewonnen, und zwar gute. Zu Hause hatte er keinerlei Freunde gehabt. In der Schule hatten sie ihn für einen Spinner gehalten und sich sogar über seinen Namen lustig gemacht, indem sie auf ihn zugerannt kamen und ihm he, Avery, du kleiner Cleverly ins Gesicht riefen. Hier war so etwas nie passiert, weil sie hier alle gemeinsam in der Falle saßen. Hier hatten seine Freunde für ihn gesorgt, sie hatten ihn wie einen ganz normalen Menschen behandelt, und jetzt würde er für sie sorgen. Kalisha, Nicky, George und Helen – er würde für sie sorgen.

Vor allem für Luke. Wenn er dazu imstande war.

Mit geschlossenen Augen sah er das große Telefon.

Es stand neben dem Trampolin vor der flachen Kuhle, die Luke gegraben hatte, um sich unter dem Zaun durchzuschlängeln, ein altmodisches Telefon, mindestens fünf Meter hoch und schwarz wie der Tod. Avery, seine Freunde und die Kinder aus Station A hatten einen Kreis darum gebildet. Die Stass-Lichter wirbelten heller denn je abwechselnd über die Wählscheibe und über den gigantischen Hörer aus Bakelit.

Los, Kalisha. Auf den Spielplatz!

Ohne Widerspruch ließ sie Avery los, doch bevor die Lücke im Kreis den Kraftstrom unterbrechen und die Vision zerstören konnte, griff George nach Averys Hand. Nun war das Summen überall. Bestimmt hörten sie es an all den weit entfernten Orten, wo es andere Kinder wie sie gab, die ebenfalls einen solchen Kreis gebildet hatten. Diese Kinder hörten es, so wie die Zielpersonen es gehört hatten, zu deren Tötung sie in die verschiedenen Institute verschleppt worden waren. Und wie die Zielpersonen würden die Kinder gehorchen, nur mit dem Unterschied, dass sie wissentlich und freudig gehorchen würden. Die Revolte fand nicht nur hier statt, sondern auf globaler Ebene.