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JA, antworteten die Kinder des Instituts mit einer einzigen Stimme. JA, WIR HÖREN EUCH! ES IST SO WEIT!

Das hörte ein Kreis aus Kindern im spanischen Nationalpark Sierra Nevada. Ein Kreis aus bosnischen Kindern, die in den Dinarischen Alpen eingekerkert waren, hörte es. Auf Pampus, einem den Eingang zum Hafen von Amsterdam bewachenden Inselchen, hörte es ein Kreis aus holländischen Kindern. Ein Kreis aus deutschen Kindern hörte es in einem Bergwald in Bayern.

In Pietrapertosa, Sizilien.

In Namwon, Südkorea.

Zehn Kilometer außerhalb der sibirischen Geisterstadt Tscherski.

Sie hörten es, sie antworteten, sie wurden eins.

24

Kalisha und die anderen erreichten die verschlossene Tür zum Vorderbau. Jetzt hörten sie die Schüsse deutlich, denn das Summen hatte so abrupt geendet, als hätte man einen Stöpsel gezogen.

Oh, es ist schon noch da, dachte Kalisha. Nur sind nicht mehr wir die Empfänger.

In den Wänden erhob sich ein Ächzen, ein fast menschliches Geräusch, und dann flog die Tür zwischen Tunnel und Vorderbau nach außen und prallte auf die davor stehende Rosalind Dawson, die sofort tot war. Völlig verbogen, wo sich ihre schweren Angeln befunden hatten, landete die Tür hinter dem Aufzug. An der Decke zitterte das Drahtgitter über den Leuchtstofflampen und schuf irre Unterwasserschatten.

Das Ächzen wurde lauter, es kam von überall her. Es war, als würde das Gebäude versuchen, sich selbst auseinanderzureißen. Im Wagen draußen hatte Tim an Bonnie und Clyde gedacht, Kalisha dachte an Edgar Allan Poes Geschichte vom Hause Usher.

Los, dachte sie zu den anderen. Schnell!

Sie rannten an der zertrümmerten Tür vorbei, unter der die zermalmte Frau in einer sich ausbreitenden Blutlache lag.

George: Was ist mit dem Aufzug? Der ist da hinter uns!

Nicky: Bist du behämmert? Ich weiß zwar nicht, was da gerade läuft, aber in einen Aufzug steig ich jetzt bestimmt nicht.

Helen: Ist das ein Erdbeben?

»Nein«, sagte Kalisha.

Ein Gedankenbeben. Keine Ahnung, wie…

»… wie die das machen, aber das…« Sie holte Luft und schmeckte etwas Scharfes, was sie zum Husten brachte. »Das ist es.«

Helen: Da stimmt was nicht mit der Luft.

»Ich glaube, das ist irgendein Gift«, sagte Nicky. Diese verdammten Schweine, die geben einfach nie auf.

Kalisha drückte die Tür mit der Aufschrift TREPPE auf, und sie erklommen die Stufen. Inzwischen husteten sie alle. Zwischen Ebene D und C fingen die Stufen unter ihnen zu beben an. Risse liefen im Zickzack an den Wänden herab. Die Leuchtstoffröhren erloschen, die Notbeleuchtung ging an und verbreitete einen matten, gelblichen Schein. Kalisha blieb stehen, beugte sich vornüber, würgte trocken und mühte sich weiter.

George: Was ist mit Avery und den anderen Kids da unten? Die werden ersticken!

Nicky: Und was ist mit Luke? Ist er hier? Und ist er noch am Leben?

Das wusste Kalisha nicht. Sie wusste nur, dass sie hier herauskommen mussten, bevor sie selbst erstickten. Oder bevor sie zermalmt wurden, falls das Institut in sich zusammenstürzte.

Ein gewaltiges Beben lief durch das Gebäude. Die Treppe neigte sich nach rechts. Kalisha fragte sich, wie es ihnen jetzt wohl ergehen würde, wenn sie den Aufzug genommen hätten, schob die Vorstellung jedoch gleich von sich weg.

Ebene B. Kalisha rang nach Atem, aber die Luft war besser hier, weshalb sie ein bisschen schneller laufen konnte. Sie war froh, dass sie nicht von den Zigaretten aus dem Automaten abhängig geworden war, das war ja immerhin etwas. Das Ächzen in den Wänden war zu einem tiefen Kreischen geworden. Außerdem hörte sie ein hohles metallisches Knirschen. Das mussten die Rohre und Stromleitungen sein, die auseinanderbrachen.

Alles brach auseinander. Einen kurzen Moment kam Kalisha ein gruseliges Youtube-Video in den Sinn, auf das sie wie gebannt gestarrt hatte: ein Zahnarzt, der jemand mit der Zange einen Zahn zog. Während ringsum Blut austrat, hatte der Zahn gewackelt, als versuchte er, sich im Kiefer festzuklammern, bis er sich endlich mitsamt der Wurzel löste. Was jetzt geschah, fühlte sich genauso an.

Sie kamen zur Tür zum Erdgeschoss, aber die klemmte surreal verzogen im Rahmen. Als Kalisha dagegen drückte, öffnete sie sich nicht. Nicky stellte sich neben sie, damit sie gemeinsam drücken konnten. Ohne Erfolg. Unter ihnen hob sich der Boden und krachte donnernd wieder hinunter. Ein Stück der Decke löste sich, stürzte auf die Treppe und rutschte abwärts, wobei es zerbröselte.

»Wenn wir es nicht rausschaffen, werden wir zerquetscht!«, rief Kalisha.

Nicky: George. Helen.

Er streckte seitlich die Hände aus. Das Treppenhaus war eng, doch irgendwie gelang es den vieren, sich nebeneinander vor die Tür zu postieren, Hüfte an Hüfte und Schulter an Schulter. Kalisha hatte die Haare von George in den Augen und roch den Atem von Helen, der nach Angst stank. Tastend fassten sie sich alle an den Händen. Die Blitze erschienen, und die Tür ging kreischend auf, wobei sie ein Stück vom oberen Rahmen mitnahm. Dahinter sah man den Flur des Wohnbereichs, der sich jetzt wie betrunken zur Seite neigte. Kalisha flog als Erste durch den verbogenen Rahmen, wie ein Korken aus einer Sektflasche. Sie fiel auf die Knie und schnitt sich die Hand an einer herabgefallenen Lampe auf, deren Scherben und Metallteile sich auf dem ganzen Boden verteilt hatten. An einer Wand hing schief das Poster mit den drei Jungen, die durch eine Wiese rannten, laut Aufschrift an einem Tag wie im Paradies.

Als Kalisha auf die Beine kam und sich umblickte, sah sie, dass die anderen auch gerade hochkamen. Gemeinsam rannten sie auf den Aufenthaltsraum zu, an Zimmern vorüber, wo nie wieder gestohlene Kinder wohnen würden. Die Türen krachten abwechselnd auf und zu, als würde ein Haufen Irrer lautstark applaudieren. Im Aufenthaltsraum waren mehrere Verkaufsautomaten umgestürzt und hatten ihren Inhalt auf den Boden ergossen. Aus zerbrochenen Flaschen stieg stechender Alkoholgeruch auf. Die Tür zum Spielplatz war wieder so verbogen, dass man sie nicht hätte öffnen können, aber die Glasscheibe war herausgefallen, und eine spätsommerliche Brise trug herrlich frische Luft herein. An der Schwelle angelangt, erstarrte Kalisha. Für einen Augenblick vergaß sie, dass sich das ganze Gebäude um sie herum auseinanderzureißen schien.

Zuerst dachte sie, die anderen wären doch noch da unten herausgekommen, vielleicht durch die andere Tür im Tunnel, denn da waren sie: Avery, Iris, Hal, Len, Jimmy, Donna und die Kinder aus Station A. Dann wurde ihr klar, dass sie die alle gar nicht wirklich sah. Es waren Projektionen. Genau wie das riesige Telefon, um das sie einen Kreis bildeten. Eigentlich hätte es das Trampolin und das Badmintonnetz unter sich zerquetschen sollen, doch beides stand noch da, und Kalisha sah den Maschendrahtzaun nicht hinter dem gewaltigen Gerät, sondern durch es hindurch.

Dann waren sowohl die Kids wie das Telefon verschwunden. Kalisha spürte, dass der Boden wieder in die Höhe stieg, und diesmal krachte er nicht wieder hinunter. Zwischen dem Aufenthaltsraum und dem Spielplatzrand hatte sich ein Spalt gebildet, der langsam breiter wurde. Noch waren es erst etwa dreißig Zentimeter, doch dabei würde es nicht bleiben. Um hinauszugelangen, musste sie einen kleinen Sprung machen wie von der zweiten Stufe einer Treppe.

»Kommt!«, rief sie den anderen zu. »Schnell! Solange das noch geht!«

25

Vom Dach des Verwaltungsgebäudes her hörte Stackhouse Schreie, während die Schüsse verstummt waren. Als er sich umdrehte, sah er etwas, was er zuerst nicht glauben konnte. Der Vorderbau stieg in die Höhe. Auf dem Dach stand eine Gestalt silhouettenhaft vor dem Mond, die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten. Das musste Gladys sein.