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Das ist unmöglich, dachte er.

Aber es geschah. Während der Vorderbau immer höher stieg, löste er sich knirschend und krachend von der Erde. Er verdeckte den Mond, dann neigte er sich wie die Nase eines gleichermaßen gigantischen und schwerfälligen Hubschraubers. Gladys verlor den Halt. Stackhouse hörte ihre Schreie, als sie ins Dunkel stürzte. Auf dem Verwaltungsgebäude ließen Zeke und Dr. Richardson ihre Waffen fallen, kauerten sich an die Brüstung und starrten nach oben auf eine Erscheinung wie aus einem Traum – ein Gebäude, das langsam in den Himmel stieg. Glassplitter und Betonbrocken regneten herab. Der Maschendrahtzaun um den Spielplatz wurde größtenteils mitgezogen. An der gezackten Unterseite des Gebäudes strömte Wasser aus den geborstenen Rohren.

Aus der zertrümmerten Tür des Aufenthaltsraums polterte der Zigarettenautomat. George Iles, der auf das emporschwebende Gebäude gaffte, wäre davon zermalmt worden, wenn Nicky ihn nicht zur Seite gerissen hätte.

Doug der Koch und Chad der Pfleger kamen mit gerecktem Hals und aufgesperrtem Mund zwischen den Bäumen hervor. Ihre Waffen hingen ihnen lose in der Hand. Vielleicht dachten sie, in dem von Geschossen durchlöcherten Suburban wären alle tot, wahrscheinlich hatten sie den jedoch vor Verwunderung und Entsetzen völlig vergessen.

Jetzt schob sich die Unterseite des Vorderbaus über das Dach des Verwaltungsgebäudes. Das tat sie mit der würdevollen, schwerfälligen Anmut einer Fregatte der Royal Navy aus dem achtzehnten Jahrhundert, die mit von einer leichten Brise gefüllten Segeln ihres Weges zog. Dämmelemente und Stromkabel, teils noch Funken sprühend, hingen wie zerfetzte Nabelschnüre herab. Ein nach unten ragendes Rohr riss ein Belüftungsgehäuse vom Dach. Zeke Ionidis und Dr. Felicia Richardson sahen, was da ankam, und rannten auf die Klappe zu, durch die sie heraufgestiegen waren. Zeke schaffte es, Dr. Richardson nicht. Mit einer schützenden Geste, die zugleich unwillkürlich und mitleiderregend wirkte, hob sie die Arme über den Kopf.

In diesem Augenblick brach der Tunnel zwischen Vorder- und Hinterbau, geschwächt durch die jahrelange Vernachlässigung und den aberwitzigen Aufstieg des Vorderbaus, in sich zusammen. Die Kinder darin, die bereits an Chlorgasvergiftung und mentaler Überlastung starben, wurden zermalmt. Sie hatten den Kreis bis zum Ende aufrechterhalten, und als die Decke herunterkrachte, hatte Avery Dixon einen letzten Gedanken, gleichermaßen klar und ruhig: Es war toll, Freunde zu haben.

26

Tim erinnerte sich nicht daran, dass er aus dem Suburban gestiegen war. Er war vollständig damit beschäftigt zu verarbeiten, was er da sah: ein riesiges Gebäude, das in der Luft schwebte und sich über ein kleineres Gebäude schob. Auf dessen Dach sah er eine Gestalt, die die Hände über den Kopf hob. Dann hörte er von irgendwo hinter dieser unglaublichen, wie von David Copperfield geschaffenen Illusion her ein gedämpftes Donnern, eine gewaltige Staubwolke stieg auf… und das schwebende Gebäude stürzte herab wie ein Stein.

Ein Donnerschlag erschütterte den Boden und brachte Tim ins Taumeln. Das kleinere Gebäude, in dem wohl die Büros waren, konnte das von oben kommende Gewicht nicht tragen. Es explodierte in alle Richtungen nach außen. Holz, Beton und Glas flogen durch die Luft, und eine neue Staubwolke quoll in den Himmel, so groß, dass sie den Mond verhüllte. Die Alarmanlage im Bus (wer hätte gedacht, dass so ein Ding eine hatte?) ging los und stieß ein an- und abschwellendes Jaulen aus. Wer immer da auf dem Dach des kleineren Gebäudes gestanden hatte, war natürlich tot, und alle im Innern waren nur noch Brei.

»Tim!« Luke packte ihn am Arm. »Tim!« Der Junge zeigte auf die beiden Männer, die zwischen den Bäumen hervorgetreten waren. Der eine starrte noch auf die Ruine, aber der andere hob eine große Pistole. Ganz langsam, wie in einem Traum.

Tim brachte ebenfalls seine Pistole in Anschlag, und zwar wesentlich schneller. »Stopp. Waffen fallen lassen! Beide!«

Die zwei sahen ihn benommen an, dann gehorchten sie.

»Und jetzt da rüber zum Fahnenmast!«

»Ist es vorbei?«, sagte einer der Männer. »O Gott, hoffentlich ist es vorbei.«

»Ich glaube schon«, sagte Luke. »Tun Sie, was mein Freund sagt.«

Durch die Staubwolken hindurch wankten die beiden auf den Fahnenmast und den Bus zu. Luke hob die Waffen auf und wollte sie schon in den Suburban werfen, als ihm einfiel, dass man mit dem von Geschossen durchsiebten und mit Blut bespritzten Fahrzeug nirgendwo mehr hinkäme. Deshalb behielt er eine von den automatischen Pistolen. Die andere schleuderte er in den Wald.

27

Stackhouse beobachtete einen Moment lang, wie Chad und Doug auf ihn zukamen, dann wandte er sich wieder den Trümmern seines Lebens zu.

Wer hätte das schon ahnen können, dachte er. Wer hätte wissen können, dass die Kinder genügend Kraft entwickeln können, um ein ganzes Gebäude in die Luft zu heben? Mrs. Sigsby nicht, Evans nicht, Heckle und Jeckle nicht, Donkey Kong nicht (wo immer der jetzt gerade sein mag) – und ich erst recht nicht. Wir dachten, wir würden mit einem Hochspannungsgenerator umgehen, während wir in Wirklichkeit nur Schwachstrom angezapft haben. Da haben wir uns selbst reingelegt.

Jemand klopfte ihm auf die Schulter, und als er sich umdrehte, stand der irregeleitete Held vor ihm. Der war breitschultrig (wie es ein echter Held sein sollte), trug jedoch eine Brille, was nicht zum Klischee passte.

Allerdings gibt’s da ja auch Clark Kent, dachte Stackhouse.

»Sind Sie bewaffnet?«, fragte der Mann namens Tim.

Stackhouse schüttelte den Kopf und wedelte matt mit der Hand. »Das hab ich den anderen überlassen.«

»Seid ihr drei die Letzten?«

»Keine Ahnung.« Noch nie hatte Stackhouse sich so erschöpft gefühlt. Wahrscheinlich lag das am Schock. Daran und am Anblick eines Gebäudes, das in den Nachthimmel gestiegen war und den Mond verdunkelt hatte. »Vielleicht ist jemand vom Personal im Hinterbau noch am Leben. Und die Ärzte dort, Hallas und James. Was allerdings die Kinder im Vorderbau angeht… Ich weiß nicht, wie jemand das da hätte überleben können.« Mit bleischwerem Arm deutete er auf die Trümmer.

»Aber die übrigen Kinder«, sagte Tim. »Was ist mit denen? Waren die nicht in dem anderen Gebäude?«

»Sie waren im Tunnel«, mischte Luke sich ein. »Der Typ da hat versucht, sie zu vergasen, aber vorher ist der Tunnel zusammengebrochen. In dem Moment, wo der Vorderbau in die Luft gestiegen ist.«

Stackhouse überlegte, ob er das leugnen sollte, aber was hätte es genutzt, wenn der Junge da seine Gedanken lesen konnte. Außerdem war er total erschöpft. Völlig verbraucht.

»Heißt das, dass deine Freunde tot sind?«, sagte Tim.

Luke machte den Mund auf, um zu sagen, dass er das nicht sicher wisse, aber für wahrscheinlich halte. Dann zuckte sein Kopf zur Seite, als hätte jemand ihn gerufen. Wenn dem so war, so war das nur in seinem Kopf geschehen, denn Tim hörte die Stimme erst einige Sekunden später.

»Luke!«

Ein Mädchen rannte über den Rasen, wobei sie den Trümmern ausweichen musste, die kranzförmig nach außen geschleudert worden waren. Drei weitere Kinder folgten, zwei Jungen und ein Mädchen.

»Lukey!«

Luke rannte auf das erste Mädchen zu und schlang die Arme um sie. Die anderen drei kamen dazu, und während sich die kleine Gruppe fest umarmte, hörte Tim wieder das Summen, wenn auch leiser. Mehrere Trümmer regten sich, Holzstücke und Betonbrocken stiegen in die Luft, um wieder herunterzusinken. Und hörte Tim nicht in seinem Kopf, wie die Stimmen der vier dort drüben sich flüsternd vermischten? Vielleicht bildete er sich das nur ein, aber…