»Die senden immer noch was aus«, sagte Stackhouse in desinteressiertem Ton, als würde er irgendetwas völlig Belangloses verkünden. »Ich höre sie. Das tun Sie sicher auch. Passen Sie bloß auf, die Wirkung kumuliert. Das hat Hallas und James zu Heckle und Jeckle gemacht.« Er stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus. »Die waren nur noch zwei Witzfiguren mit Doktortitel.«
Anstatt darauf zu achten, ließ Tim die Kinder ihr freudiges Wiedersehen genießen – wer auf der ganzen Welt hätte das mehr verdient als sie? Nebenbei hielt er ein Auge auf die drei überlebenden Institutsmitarbeiter, obwohl die eigentlich nicht den Eindruck machten, als könnten sie ihm irgendwie gefährlich werden.
»Was mache ich bloß mit euch Arschlöchern?«, sagte Tim, ohne wirklich zu den dreien zu sprechen. Er dachte nur laut.
»Bitte töten Sie uns nicht«, sagte Doug. Er deutete auf die kleine Gruppe, die sich immer noch umarmte. »Ich habe für die jungen Leute da gekocht. Hab sie am Leben gehalten.«
»Wenn Sie am Leben bleiben wollen, würde ich an Ihrer Stelle nicht versuchen, irgendetwas zu rechtfertigen«, sagte Tim. »Am klügsten wäre es wahrscheinlich, schlicht den Mund zu halten.« Er wandte sich an Stackhouse. »Sieht aus, als würden wir den Bus nicht brauchen, nachdem ihr die meisten Kinder umgebracht habt, deshalb…«
»Aber das haben doch nicht wir…«
»Sind Sie taub? Ich hab gesagt, Sie sollen den Mund halten.«
Stackhouse sah Tims Gesichtsausdruck. Der wirkte nicht heroisch, irregeleitet oder sonst was. Der verriet Mordabsichten. Er hielt den Mund.
»Wir brauchen ein Fahrzeug, um hier wegzukommen«, fuhr Tim fort. »Und ich hab wirklich keine Lust, mit euch Pennern durch den Wald zu diesem Dorf zu marschieren, von dem Luke mir erzählt hat. Es war ein langer, anstrengender Tag. Irgendwelche Vorschläge?«
Stackhouse schien ihn gar nicht gehört zu haben. Er starrte auf die Ruine, die der Vorderbau jetzt war, und auf die zermalmten Überreste vom Verwaltungsgebäude darunter. »Das alles«, sagte er verwundert. »Das alles wegen einem entlaufenen Jungen.«
Tim kickte ihm leicht ans Schienbein. »Zuhören, Sie Trottel. Wie schaffe ich die Kinder von hier weg?«
Stackhouse gab keine Antwort, ebenso wenig wie der Mann, der angeblich für die Kinder gekocht hatte. Dafür meldete sich der dritte, der mit seinem Kasack wie ein Krankenpfleger aussah. »Wenn ich eine Idee habe, lassen Sie mich dann laufen?«
»Wie heißen Sie?«
»Chad, Sir. Chad Greenlee.«
»Tja, Chad, das hängt davon ab, wie gut Ihre Idee ist.«
28
Die letzten früher im Institut eingesperrten Kinder umarmten und umarmten und umarmten sich. Luke hatte das Gefühl, er könnte die anderen für immer so umarmen und spüren, wie sie ihn umarmten, denn er hätte nie erwartet, sie je wiederzusehen. Vorläufig war alles, was sie brauchten, in dem engen Kreis, den sie auf dem mit Trümmern übersäten Rasen bildeten. Sie brauchten nur einander. Die Welt mit all ihren Problemen war ihnen scheißegal.
Avery?
Kalisha: Tot. Er und alle anderen. Als der Tunnel über ihnen eingestürzt ist.
Nicky: Es ist besser so, Luke. Er wäre nicht mehr so gewesen wie früher. Nicht mehr er selbst. Was er getan hat, was die alle getan haben… es hätte ihn ausgehöhlt wie die anderen.
Was ist mit den Kids im Vorderbau? Ist von denen noch jemand am Leben? Dann müssen wir nämlich…
Es war Kalisha, die antwortete, indem sie den Kopf schüttelte und keine Worte sandte, sondern ein Bild: den verstorbenen Harry Cross aus Selma, Alabama. Den Jungen, der in der Cafeteria gestorben war.
Luke starrte Sha an. Die alle? Willst du sagen, dass alle an einem Krampfanfall gestorben sind, bevor das Ding da heruntergekracht ist?
Er deutete auf die Trümmer.
»Ich glaube, es ist passiert, als der Vorderbau abgehoben hat«, sagte Nicky. »Als Avery den Hörer vom großen Telefon runtergestoßen hat.« Und als er merkte, dass Luke nicht ganz begriff: Als die anderen Kinder dazugekommen sind.
»Die Kinder von weit weg«, fügte George hinzu. »Aus den anderen Instituten. Die Kids im Vorderbau waren einfach zu… Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.«
»Zu verwundbar«, sagte Luke. »Das meinst du wohl. Sie waren zu verwundbar. Es war wie eine von den verfluchten Spritzen, stimmt’s? Eine von den besonders schlimmen.«
Die anderen nickten.
»Bestimmt hat er die Blitze gesehen, als er gestorben ist«, flüsterte Helen. »Ist das nicht schrecklich?«
Luke reagierte mit jenem kindlichen Widerspruch, über den Erwachsene oft zynisch lächelten und den nur andere Kinder wirklich verstehen konnten: Das ist nicht fair! Nicht fair!
Nein, stimmten die anderen zu. Nicht fair.
Sie lösten sich voneinander. Luke sah sie einen nach dem anderen im staubigen Mondlicht an: Helen, George, Nicky… und Kalisha. Er erinnerte sich an den Tag, als er ihr zum ersten Mal begegnet war. Da hatte sie so getan, als würde sie eine Zuckerzigarette rauchen.
George: Was jetzt, Lukey?
»Das wird Tim schon wissen«, sagte Luke und konnte nur hoffen, dass es stimmte.
29
Chad ging voraus und führte sie um die zerstörten Gebäude herum. Hinter ihm trotteten mit hängendem Kopf Stackhouse und Doug der Koch. Tim folgte, die Pistole in der Hand. Luke und seine Freunde gingen hinter ihm. Die Grillen, die von der Katastrophe zum Schweigen gebracht worden waren, sangen wieder.
An einem asphaltierten Weg, an dem hintereinander ein knappes Dutzend Pkws, Transporter und Pick-ups parkten, blieb Chad stehen. Eines der Fahrzeuge war ein Toyota-Kastenwagen mit der Aufschrift MAINE PAPER INDUSTRIES an der Seite. Chad zeigte darauf. »Wie wäre es mit dem, Sir? Wäre der geeignet?«
Wäre er wohl, wenigstens für den Anfang, dachte Tim. »Was ist mit dem Schlüssel?«
»Das sind Dienstwagen, die jeder benutzt, deshalb steckt der Schlüssel immer unter der Sonnenblende.«
»Luke«, sagte Tim. »Kannst du mal nachschauen?«
Als Luke zu dem Wagen ging, begleiteten ihn die anderen Kinder, als könnten sie es nicht ertragen, auch nur eine Sekunde voneinander getrennt zu sein. Luke öffnete die Fahrertür und klappte die Sonnenblende herunter. Etwas fiel in seine Hand. Er hielt den Schlüssel in die Höhe.
»Gut«, sagte Tim. »Mach jetzt die Hecktür auf. Wenn da irgendwelches Zeug drin liegt, müsst ihr es rausräumen.«
Das übernahmen der Junge namens Nick und der kleinere namens George. Sie holten mehrere Gartenrechen und Hacken, einen Werkzeugkasten und einige Säcke Rasendünger heraus. Während sie damit beschäftigt waren, setzte Stackhouse sich ins Gras und ließ den Kopf auf die Knie sinken. Es war ein Ausdruck der tiefsten Niedergeschlagenheit, aber Tim empfand keinerlei Mitgefühl. Er schlug Stackhouse auf die Schulter.
»Wir fahren jetzt.«
Stackhouse hob nicht einmal den Kopf. »Wohin? Ich glaube, der Junge hat was von Disneyland gesagt.« Er schnaubte, was wohl eine extrem humorlose Form von Lachen war.
»Geht Sie nichts an. Aber mich würde interessieren, wo Sie eigentlich hinwollen?«
Stackhouse gab keine Antwort.
30
Im Laderaum des Kastenwagens gab es keine Sitze, weshalb die Kinder sich auf dem Beifahrersitz abwechselten, angefangen mit Kalisha. Luke quetschte sich zwischen ihr und Tim auf den blanken Blechboden. Nicky, George und Helen hockten nebeneinander vor der Hecktür und blickten durch die kleinen, staubigen Fenster auf eine Welt, die sie nie erwartet hätten wiederzusehen.