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Luke: Wieso weinst du, Kalisha?

Sie antwortete ihm, dann sagte sie es laut, damit auch Tim es hören konnte. »Weil alles so schön ist. Selbst im Dunkeln ist alles so schön. Wenn bloß Avery da wäre und es auch sehen könnte!«

31

Am östlichen Horizont dämmerte es schwach, als Tim in südlicher Richtung auf den Highway 77 einbog. Der Junge namens Nicky hatte Kalisha auf dem Vordersitz abgelöst. Luke war mit ihr nach hinten geklettert, und jetzt lagen alle vier wie ein Wurf Welpen auf dem Boden und schliefen fest. Auch Nicky schien zu schlafen, denn sein Kopf schlug jedes Mal, wenn der Wagen über eine Bodenwelle fuhr, ans Fenster… Und es gab eine Menge Bodenwellen.

Kurz nachdem Tim ein Schild mit der Ankündigung gesehen hatte, dass es noch fünfzig Meilen bis Millinocket waren, warf er einen Blick auf sein Handy und sah, dass er zwei Balken und neun Prozent Akkuladung hatte. Er rief Wendy an, die beim ersten Läuten abhob. Sie wollte wissen, ob es gut ausgegangen sei. Als er das bestätigte, fragte sie, wie es Luke gehe.

»Gut«, sagte er. »Der schläft gerade. Ich hab vier weitere Kinder dabei. Dort waren noch andere – wie viele, weiß ich nicht, jedenfalls eine ganze Reihe–, aber die sind tot.«

»Tot? Mein Gott, Tim, was ist passiert?«

»Kann ich dir jetzt nicht erzählen. Das hol ich nach, sobald es geht, und vielleicht glaubst du es sogar, aber momentan bin ich irgendwo in der Pampa, ich hab nicht mehr als dreißig Dollar in der Tasche, und ich trau mich nicht, meine Kreditkarten zu benutzen. Da, wo ich gerade herkomme, herrscht ein furchtbares Chaos, und ich will hier keine Spuren hinterlassen. Außerdem bin ich verdammt müde. Der Tank ist noch halb voll, was gut ist, aber ich pfeife auf dem letzten Loch. Scheiße, was?«

»Was… du… irgendwelche…«

»Wendy, hier ist ein Funkloch. Wenn du mich hörst – ich rufe wieder an. Ich liebe dich.«

Er wusste nicht, ob sie den letzten Satz mitbekommen hatte oder nicht und was sie damit anfangen würde. So etwas hatte er noch nie zu ihr gesagt. Er schaltete sein Handy aus und legte es in die Ablage zur Pistole von Tag Faraday. Alles, was in DuPray geschehen war, schien schon so lange zurückzuliegen, als gehörte es zu einem Leben, das jemand anderes geführt hatte. Momentan kam es nur auf die Kinder da an und darauf, was er mit ihnen anfangen würde.

Und darauf, wer sie eventuell verfolgte.

»He, Tim!«

Er drehte Nicky den Kopf zu. »Ich dachte, du schläfst.«

»Nein, hab bloß nachgedacht. Darf ich dir was sagen?«

»Klar. Du darfst mir ’ne Menge sagen. Dann bleibe ich besser wach.«

»Eigentlich wollte ich bloß danke sagen. Ich kann zwar nicht behaupten, du hättest meinen Glauben an die Menschheit wiederhergestellt, aber mit Lukey herzukommen, wie du es getan hast… dazu war verdammt viel Mumm nötig.«

»Sag mal, Junge, liest du etwa meine Gedanken?«

Nicky schüttelte den Kopf. »Momentan keine Chance. Vermutlich könnte ich nicht mal eins von den Bonbonpapierchen auf dem Boden dieser Schrottmühle in Bewegung bringen, und das war ursprünglich meine Spezialität. Wenn ich mit denen da hinten verbunden wäre…« Er deutete mit dem Kopf auf die schlafenden Kinder im Laderaum. »Dann wäre es anders. Jedenfalls vorübergehend.«

»Meinst du, das wird wieder abflauen? Bis du wieder wie früher bist?«

»Keine Ahnung. Mir ist das sowieso nicht wichtig. War es noch nie. Mich interessiert nur Football und Streethockey.« Er warf einen Blick auf Tim. »Mann, das sind ja keine Säcke unter deinen Augen, sondern richtige Koffer.«

»Ich brauche etwas Schlaf, das stimmt«, gab Tim zu. Ja, so etwa zwölf Stunden. Ungebeten fiel ihm das heruntergekommene Motel von Norbert Hollister ein, wo der Fernseher nicht funktionierte und die Kakerlaken nur so durch die Gegend wuselten. »Wahrscheinlich gibt’s hier irgendwo private Motels, wo man keine Fragen stellt, wenn ich bar bezahlen will, aber was Bargeld angeht, bin ich ausgesprochen knapp.«

Nicky grinste, und Tim sah ihm den gut aussehenden jungen Mann an, zu dem er – wenn alles gut lief – in ein paar Jahren werden würde. »Ich glaube, da könnten ich und meine Freunde dir aushelfen. Ganz sicher bin ich mir nicht, aber wahrscheinlich klappt es. Haben wir genug Benzin, dass wir es bis in die nächste Stadt schaffen?«

»Auf jeden Fall.«

»Halt dort mal an«, sagte Nicky und legte den Kopf wieder ans Fenster.

32

Kurz bevor die in Millinocket gelegene Filiale der Seaman’s Trust Bank an diesem Tag um neun Uhr öffnete, rief eine Kassiererin namens Sandra Robichaux den Filialleiter aus seinem Büro.

»Wir haben ein Problem«, sagte sie. »Sehen Sie sich das mal an!«

Sie setzte sich vor den Monitor, auf dem das aufgezeichnete Überwachungsvideo vom Geldautomaten lief. Der Filialleiter, er hießt Brian Stearns, ließ sich neben ihr nieder. Zwischen den einzelnen Transaktionen schlief die Kamera, was in der kleinen Stadt Millinocket im Norden von Maine normalerweise bedeutete, dass sie die ganze Nacht über schlief und erst gegen sechs Uhr morgens für die ersten Kunden aufwachte. Die Zeitangabe auf dem Bildschirm lautete 05:18. Stearns und Robichaux sahen, wie sich fünf Personen dem Geldautomaten näherten. Vier hatten sich ihre T-Shirt über Mund und Nase gezogen, womit sie wie maskierte Banditen in einem alten Western aussahen. Die fünfte trug eine tief in die Stirn gezogene Basecap, auf der vorn MAINE PAPER INDUSTRIES stand.

»Die sehen wie Kinder aus!«

Robichaux nickte. »Falls sie nicht kleinwüchsig sind, was nicht sehr wahrscheinlich ist. Jetzt kommt es, Mr. Stearns.«

Die Kinder fassten sich an den Händen und bildeten einen Kreis. Einen Moment lang verzerrte sich das Bild wie durch eine elektrische Interferenz. Dann spuckte das Gerät wie ein Spielautomat im Casino einen Schein nach dem anderen aus.

»Was ist denn da los?«

Robichaux schüttelte den Kopf. »Das weiß ich auch nicht, aber die haben mehr als zweitausend Dollar eingesteckt, obwohl der Automat eigentlich an niemand mehr als achthundert auszahlen soll. So ist er eingestellt. Ich denke, wir sollten irgendjemand anrufen, aber ich weiß nicht, wen.«

Stearns sagte nichts. Er beobachtete nur fasziniert, wie die kleinen Banditen – sie sahen aus, als wären sie noch nicht mal in der Highschool – das Geld einsteckten.

Dann waren sie fort.

DER MANN MIT DEM LISPELN

1

Etwa drei Monate später schlenderte Tim Jamieson an einem kühlen Oktobermorgen die Zufahrt entlang, die von der Catawba Hill Farm zur South Carolina State Road 12-A führte. Der Spaziergang dauerte eine Weile, da die Zufahrt beinahe eine halbe Meile lang war. Wäre sie noch länger gewesen, sagte er gern scherzhaft zu Wendy, hätte man sie als South Carolina State Road 12-B bezeichnen können. Er trug ausgeblichene Jeans, verdreckte Arbeitsstiefel Marke Georgia Giant und ein Sweatshirt, das so groß war, dass es ihm bis hinunter zu den Oberschenkeln reichte. Es war ein Geschenk, das Luke für ihn im Internet bestellt hatte. Auf der Brust standen in goldenen Lettern zwei Wörter: DER AVESTER. Tim hatte Avery Dixon nie kennengelernt, trug das Shirt aber trotzdem gern. Sein Gesicht war tief gebräunt. Die Farm wurde schon seit zehn Jahren nicht mehr als solche betrieben, aber hinter der Scheune breitete sich ein riesiger Garten aus, und jetzt war Erntezeit.

Tim erreichte den Briefkasten, klappte ihn auf und wollte gerade die übliche Werbung herausziehen (echte Post bekam heutzutage offenbar niemand mehr), als er erstarrte. Sein Magen, dem es auf dem Weg hierher bestens gegangen war, schien sich zusammenzuziehen. Da kam ein Wagen, bremste ab und fuhr an den Straßenrand. Er hatte nichts Besonderes an sich, es war nur ein Chevy Malibu, von rötlichem Staub bedeckt und mit massenhaft zerquetschten Insekten am Kühlergrill. Ein Nachbar war es nicht, die Autos von denen kannte Tim alle, aber es hätte ein Vertreter sein können oder jemand, der sich verfahren hatte und nach dem Weg fragen wollte. Nur war das nicht der Fall. Tim wusste nicht, wer der Mann am Lenkrad war, nur dass er – Tim – auf ihn gewartet hatte. Jetzt war es so weit.