Die beiden sahen fasziniert und leicht beängstigt, wie Luke die Hände neben sein schmales, angespanntes Gesicht hob. Das Pizzablech zitterte nicht mehr nur, es klapperte. Wie es manchmal die Teller in den Küchenschränken taten.
»… und dann werden diese ganzen Dinge aus der Dunkelheit emporschweben. Das weiß ich!«
Das Pizzablech glitt über den Tisch und fiel krachend zu Boden. Herb und Eileen bemerkten es kaum. So etwas geschah eben, wenn Luke aufgeregt war. Nicht oft, aber manchmal doch. Deshalb waren seine Eltern daran gewöhnt.
»Ich verstehe«, sagte Herb.
»Unsinn«, sagte Eileen. »Verstehen können wir das beide nicht. Aber du, Luke, solltest jetzt anfangen, das Nötige zu tun. Leg die Zulassungsprüfung ab. Danach kannst du dich immer noch anders entscheiden. Wenn du das nicht tust, wenn du bei deiner Entscheidung bleibst…« Sie sah Herb an, der nickte. »Dann versuchen wir, es möglich zu machen.«
Luke grinste, dann hob er das Pizzablech vom Boden auf. Er blickte zu Richie Rocket hinüber. »Als ich klein war, hab ich auch immer mit dem getanzt.«
»Ja«, sagte Eileen und musste wieder nach der Papierserviette greifen. »Das hast du.«
»Du weißt doch, was man über den Abgrund sagt, nicht wahr?«, fragte Herb.
Luke schüttelte den Kopf, weil das entweder zu den wenigen Dingen gehörte, die er nicht wusste, oder weil er seinem Vater nicht die Pointe verderben wollte.
»Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«
»Das kann man wohl sagen«, sagte Luke. »Übrigens, können wir noch Nachtisch bestellen?«
4
Den Aufsatz eingeschlossen, dauerte die Zulassungsprüfung vier Stunden, aber gnädigerweise gab es in der Mitte eine Pause. Luke setzte sich im Foyer der Highschool auf eine Bank, mampfte die Sandwiches, die seine Mutter ihm eingepackt hatte, und wünschte sich ein Buch herbei. Er hatte zwar Naked Lunch mitgebracht, aber das hatte einer der Leute, die Aufsicht führten, zusammen mit seinem Handy (und dem von allen anderen) konfisziert und gesagt, er werde es später zurückbekommen. Außerdem hatte der Typ darin herumgeblättert, wahrscheinlich auf der Suche nach unanständigen Fotos oder einem Spickzettel.
Während er seine Tierkekse aß, merkte er, dass mehrere andere Prüflinge um ihn herumstanden. Große Jungen und Mädchen im letzten oder vorletzten Highschooljahr.
»He, Kleiner«, sagte einer von ihnen. »Was tust du hier eigentlich?«
»Ich mache die Prüfung«, sagte Luke. »Genau wie ihr.«
Die anderen dachten darüber nach. Dann sagte eines von den Mädchen: »Bist du etwa ein Genie? So eines wie in Kinofilmen?«
»Nein.« Luke musste grinsen. »Aber immerhin hab ich heute in einem Holiday Inn Express übernachtet.«
Die anderen lachten, was gut war. Ein Junge hob die flache Hand, und Luke klatschte ihn ab.
»Wo willst du denn hin?«, fragte der Junge. »Auf welches College, meine ich?«
»Aufs MIT, wenn ich es schaffe«, sagte Luke. Was geschwindelt war; die beiden Colleges seiner Wahl hatten ihn bereits provisorisch zugelassen. Vorausgesetzt, dass er heute gut abschnitt, was kein großes Problem sein würde. Bisher war die Prüfung jedenfalls kinderleicht gewesen. Was ihm Angst machte, waren die Kids, die um ihn herumstanden. Im Herbst würde er in Kursen zusammen mit solchen Kids sitzen, die wesentlich älter waren und etwa doppelt so groß wie er, und natürlich würden alle ihn anglotzen. Darüber hatte er bereits mit Mr. Greer gesprochen. Die würden ihn bestimmt für den totalen Freak halten, hatte er gemeint.
»Worauf es ankommt, ist, wie du dich fühlst«, hatte Mr. Greer erwidert. »Vergiss das möglichst nie. Und falls du eine Beratung brauchen solltest – wenn du einfach jemand brauchst, mit dem du über deine Gefühle sprechen kannst–, dann hol sie dir. Außerdem kannst du mir immer eine Nachricht schicken.«
Eines der Mädchen – hübsch und rothaarig – fragte ihn, ob er die Hotelaufgabe in dem Matheteil gelöst habe.
»Die mit diesem Aaron?«, fragte Luke. »Ja, wahrscheinlich schon.«
»Was hast du denn als Lösung angekreuzt, weißt du das noch?«
Die Aufgabe hatte darin bestanden, herauszubekommen, wie viel ein Typ namens Aaron für x Übernachtungen bezahlen musste, wenn sein Hotelzimmer $ 99,95 pro Nacht plus 8 % Steuer plus eine zusätzliche einmalige Gebühr von fünf Dollar kostete. Natürlich erinnerte Luke sich daran. Es war eine etwas fiese Aufgabe, weil sie den Ausdruck wie viel enthielt. Die Lösung war daher keine Zahl, sondern eine Gleichung.
»Die Lösung war B. Schau mal.« Er zog seinen Kugelschreiber aus der Tasche und schrieb auf die Papiertüte, in der sein Sandwich gesteckt hatte: 1,08 (99,95x) + 5.
»Bist du dir sicher?«, fragte das Mädchen. »Ich hatte nämlich A.« Sie bückte sich, griff sich die Papiertüte – wobei er einen Hauch von ihrem Parfüm schnupperte, Flieder, herrlich – und schrieb darauf: 99,95 + 0,08x + 5.
»Ausgezeichnete Gleichung«, sagte Luke. »Aber das zeigt, wie dich die Leute, die sich solche Prüfungen ausdenken, nach Strich und Faden verarschen.« Er tippte auf die Tüte. »Du hast nur eine einzige Übernachtung berechnet und die Steuer mit den Tagen multipliziert.«
Sie stöhnte.
»Das macht doch nichts«, sagte Luke. »Wahrscheinlich hast du den Rest richtig gemacht.«
»Vielleicht liegst du ja auch falsch, und sie liegt richtig«, sagte einer von den Jungen. Es war der, der Luke abgeklatscht hatte.
Sie schüttelte den Kopf. »Der Kleine hat recht. Das mit der verfickten Steuer hab ich total falsch verstanden. Ich hab’s verbockt.«
Luke sah sie mit hängendem Kopf davontrotten. Einer von den Jungen ging hinter ihr her und legte ihr den Arm um die Taille. Luke beneidete ihn.
Eine der anderen, eine superscharfe Braut mit Designerbrille, setzte sich neben Luke. »Sag mal, Kleiner, fühlt man sich eigentlich komisch?«, fragte sie. »Wenn man so ist wie du, meine ich?«
Luke dachte einen Moment nach. »Manchmal«, sagte er dann. »Normalerweise ist es einfach so, wie es ist, weißt du?«
Einer von der Aufsicht lehnte sich aus der Turnhalle und läutete mit einer Handglocke. »Weiter geht’s, Leute!«
Ziemlich erleichtert stand Luke auf und warf seine Papiertüte in den Mülleimer neben der Tür zur Turnhalle. Er warf einen letzten Blick auf die hübsche Rothaarige, und während er durch die Tür trat, wanderte der Mülleimer knapp zehn Zentimeter nach links.
5
Die zweite Hälfte der Prüfung war ebenso leicht wie die erste, und beim Aufsatz hatte er wohl ganz passabel abgeschnitten. Jedenfalls hatte er ihn kurz gehalten. Als er aus dem Schultor trat, sah er die hübsche Rothaarige ganz allein weinend auf einer Bank sitzen. Er überlegte, ob sie die Prüfung wohl versemmelt hatte und, falls ja, wie schlimm – nur so, dass sie nicht ins College ihrer Wahl kommen würde, oder so, dass sie sich mit einer minderwertigen Alternative begnügen musste. Er überlegte, wie es wohl war, ein Gehirn zu haben, das irgendwie nicht alle Antworten wusste. Er überlegte, ob er zu ihr hinübergehen und versuchen sollte, sie zu trösten. Er überlegte, ob sie sich wohl von einem Jungen trösten ließe, der eigentlich noch ein Pimpf war. Wahrscheinlich würde sie ihn auffordern, sich schleunigst zu verpissen. Er überlegte sogar, auf welche Weise sich der Mülleimer bewegt hatte – so was war irgendwie unheimlich. Schließlich kam ihm in den Sinn (und zwar mit der Kraft einer Offenbarung), dass das Leben im Grunde eine einzige lange Zulassungsprüfung war, bei der einem anstatt vier oder fünf Auswahlmöglichkeiten Dutzende vorgesetzt wurden. Einschließlich solchem Scheiß wie unter Umständen und vielleicht, vielleicht auch nicht.