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»Ich hatte eine Tante, die in die Zukunft schauen konnte«, sagte Annie unerwartet. »Als ihre Jungs an ’nem bestimmten Abend in die Disco gehen wollten, hat sie sie davon abgehalten, und tatsächlich gab’s dort eine Gasexplosion. Zwanzig Leute sind verbrannt wie Mäuse in der Falle, aber ihren Jungs ist nix passiert, weil die zu Hause saßen.« Sie runzelte die Stirn. »Außerdem hat sie gewusst, dass Truman zum Präsidenten gewählt wird, und das hat echt niemand geglaubt.«

»Hat sie das mit Trump denn auch vorhergesehen?«, fragte Kalisha.

»Ach, als dieser größenwahnsinnige Armleuchter aus New York aufgekreuzt is, war sie schon lange tot«, sagte Annie, und als Kalisha die flache Hand hob, klatschte Annie sie gekonnt ab.

Smith ignorierte die Unterbrechung. »Die Welt ist nicht untergegangen, Tim. Das ist keine Statistik, sondern eine Tatsache. Siebzig Jahre nachdem Hiroshima und Nagasaki von Atombomben vernichtet wurden, ist die Welt noch nicht untergegangen, obwohl viele Länder über Atomwaffen verfügen, obwohl primitive menschliche Emotionen weiterhin gegenüber dem rationalen Denken dominieren und obwohl als Religion maskierter Aberglaube immer noch den Lauf der Politik bestimmt. Warum ist das so? Weil wir die Welt beschützt haben, und jetzt ist dieser Schutz dahin. Daran ist Luke Ellis schuld, und Sie haben ihn unterstützt.«

Tim sah Luke an. »Glaubst du das, was er da behauptet?«

»Nein«, sagte Luke. »Und er glaubt es selbst nicht, jedenfalls nicht voll und ganz.«

Ohne dass Tim es wusste, dachte Luke an das Mädchen, die ihn bei der Zulassungsprüfung nach einer Mathematikaufgabe gefragt hatte, in der es um die Hotelrechnung eines gewissen Aaron gegangen war. Die Lösung des Mädchens war falsch gewesen, und das hier war auf ähnliche Weise falsch, nur in einem wesentlich größeren Maßstab – eine unzutreffende Lösung, hervorgegangen aus einer fehlerhaften Gleichung.

»Ich kann mir gut vorstellen, dass du das gerne denken würdest«, sagte Smith.

»Annie hat recht«, sagte Luke. »Es gibt wirklich Leute, die präkognitive Momente haben, und ihre Tante hat wohl dazugehört. Im Gegensatz zu dem, was der Typ da sagt und vielleicht sogar glaubt, sind die nicht mal besonders selten. Wahrscheinlich hast du selbst schon mal so Momente gehabt, Tim, sie aber anders bezeichnet. Als Instinkt zum Beispiel.«

»Oder als Ahnung«, sagte Nicky. »Im Fernsehen haben die Ermittler immer irgendwelche Ahnungen.«

»Das Fernsehen ist nicht das Leben«, sagte Tim, obwohl er sich an etwas aus seiner eigenen Vergangenheit erinnerte – daran, dass er urplötzlich ohne echten Grund beschlossen hatte, ein Flugzeug zu verlassen und per Anhalter nach Norden zu reisen.

»Was echt schade ist«, sagte Kalisha. »Ich bin nämlich ein Riesenfan von Riverdale.«

»Wenn von solchen Dingen die Rede ist, wird oft das Wort Flash verwendet«, sagte Luke. »So kommt es einem nämlich vor, wie ein Aufblitzen. Ich bin mir sicher, dass es so etwas gibt, und ich kann mir vorstellen, dass es Leute gibt, die es sich zunutze machen können.«

Smith hob die Hände zu einer Geste, die na bitte ausdrückte. »Genau, was ich sage.« Nur dass sage sich nach thage anhörte. Das Lispeln war wieder da, was Tim interessant fand.

»Etwas verschweigt er dir allerdings«, sagte Luke. »Wahrscheinlich weil er es sich selbst nicht gerne eingesteht. Das tut keiner von denen. So wie unsere Generale sich selbst dann, als das bereits glasklar war, nicht eingestanden haben, dass man den Vietnamkrieg nicht gewinnen konnte.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du da redest«, sagte Smith.

»O doch«, sagte Kalisha.

»Und ob!«, ergänzte Nicky.

»Geben Sie’s lieber zu, Mister«, sagte Orphan Annie. »Schließlich können die Kinder da Ihre Gedanken lesen. Ganz schön nervig, was?«

Luke sah Tim an. »Sobald ich mir sicher war, dass es um Präkogs ging, und Zugang zu einem richtigen Computer hatte…«

»Er meint einen, für den man keine Wertmünzen braucht«, warf Kalisha ein.

Luke stupste sie in die Seite. »Kannst du mal einen Moment die Klappe halten?«

Nicky grinste. »Pass auf, Sha, Lukey gerät in Rage.«

Sie lachte. Smith tat das nicht. Als Luke und seine Freunde eingetroffen waren, hatte er die Kontrolle über das Gespräch verloren, und sein Gesichtsausdruck – schmaler Mund, gerunzelte Augenbrauen – verriet, dass er das nicht gewohnt war.

»Sobald ich also Zugang zu einem richtigen Computer hatte, habe ich die Bernoulli-Verteilung berechnet«, fuhr Luke fort. »Wissen Sie, was das ist, Mr. Smith?«

Der blonde Mann schüttelte den Kopf.

»Klar weiß er es«, sagte Kalisha mit fröhlichem Blick.

»Genau«, stimmte Nicky zu. »Und er mag sie gar nicht. Diese Dingsbums-Verteilung ist ein Problem für ihn.«

»Die Bernoulli-Verteilung ist eine exakte Methode, die Wahrscheinlichkeit von etwas zu bestimmen«, sagte Luke. »Sie basiert auf der Idee, dass es nur zwei mögliche Ausgänge für bestimmte empirische Ereignisse gibt, zum Beispiel einen Münzwurf oder den Sieger bei einem Footballspiel. Der Ausgang kann mit p für ein positives und mit n für ein negatives Ergebnis bezeichnet werden. Die Details will ich euch ersparen, aber am Ende hat man eine in booleschen Werten ausgedrückte Gleichung, die klar den Unterschied zwischen zufälligen und nicht zufälligen Ereignissen ausdrückt.«

»Genau, langweil uns nicht mit derart leichtem Kram«, sagte Nicky. »Komm einfach zum Punkt.«

»Ein Münzwurf hat ein zufälliges Ergebnis. Das von einem Footballspiel kommt einem zufällig vor, wenn man nur eine kleine Zahl von Spielen nimmt, aber sobald die Zahl größer ist, wird klar, dass es sich nicht um Zufall handelt, weil weitere Faktoren zum Zug kommen. Dann geht es um Wahrscheinlichkeit, und wenn A wahrscheinlicher ist als B, tritt in den meisten Fällen A ein. Das weiß jeder, der einmal eine Sportwette gemacht hat, stimmt’s?«

»Klar«, sagte Tim. »Die Chancen und die Quoten stehen sogar in der Zeitung.«

Luke nickte. »Eigentlich ist es ziemlich simpel, und wenn man die Bernoulli-Verteilung auf die Präkognitionsstatistik anwendet, kommt eine interessante Tendenz zum Vorschein. Annie, wie lange hat es bis zu der Explosion in der Disco gedauert, nachdem deine Tante ihre Vorahnung hatte?«

»Nicht lange«, sagte Annie. »Das war am selben Abend.«

Luke blickte zufrieden drein. »Was ein ideales Beispiel ist. Die von mir berechnete Bernoulli-Verteilung zeigt, dass präkognitive Momente – oder Visionen, wie man stattdessen sagen könnte – dann am exaktesten sind, wenn das vorhergesagte Ereignis nur wenige Stunden entfernt ist. Je länger der Zeitraum zwischen Vorhersage und Ereignis wird, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Vorhersage bewahrheitet. Sobald es sich um Wochen handelt, ist das so unwahrscheinlich, dass p zu n wird.«

Er wandte sich an den blonden Mann.

»Das wissen Sie natürlich, und die Leute, mit denen Sie zusammenarbeiten, wissen es auch. Seit Jahren, ja seit Jahrzehnten. Das kann gar nicht anders sein. Jeder Mathefreak mit einem Computer kann eine Bernoulli-Verteilung berechnen. Als das mit den Instituten in den späten Vierziger- oder den frühen Fünfzigerjahren losging, war das vielleicht noch nicht klar, aber in den Achtzigern haben Sie sicher Bescheid gewusst. Wahrscheinlich schon in den Sechzigern.«

Smith schüttelte den Kopf. »Du bist sehr intelligent, Luke, aber du bist trotzdem noch ein Kind, und Kinder neigen zu magischem Denken – sie biegen sich die Wahrheit zurecht, bis die zu dem passt, was sie sich wünschen. Meinst du, wir hätten keine Tests durchgeführt, um die präkognitiven Fähigkeiten unserer Leute zu beweisen?«

Sein Lispeln wurde beständig schlimmer.