»Jedes Mal wenn jemand neu zu der Gruppe dazukommen soll, wird er getestet. Er erhält die Aufgabe, eine Reihe von Zufallsereignissen vorherzusagen, zum Beispiel die verspätete Ankunft von bestimmten Flugzeugen… von den Medien berichtete Ereignisse wie den Tod von Tom Petty… das Brexit-Referendum… oder auch die Zahl von Fahrzeugen, die eine bestimmte Kreuzung überqueren. Die Liste von Erfolgen – von nachgewiesenen Erfolgen – reicht beinahe ein Dreivierteljahrhundert zurück!«
»Aber bei Ihren Tests geht es immer um Ereignisse, die bald eintreten werden«, sagte Kalisha. »Leugnen Sie das nicht, das leuchtet in Ihrem Kopf wie eine Neonreklame. Außerdem ist es logisch. Denn was nützt ein Test, wenn man das Ergebnis erst fünf oder zehn Jahre später auswerten kann?«
Sie nahm Nicky bei der Hand. Luke trat zu den beiden und nahm die Hand von Kalisha. Jetzt hörte Tim das Summen wieder. Es war leise, aber deutlich vorhanden.
»Mark Berkowitz, dieser Politiker, hat sich am Tag seines Todes genau da befunden, wo es unsere Gruppe vorhergesagt hatte«, konterte Smith. »Und diese Vorhersage wurde ein ganzes Jahr früher getroffen.«
»Na gut«, sagte Luke. »Aber bei manchen Leuten, die Sie ins Visier genommen haben, zum Beispiel bei Paul Westin, haben die Vorhersagen sich auf etwas bezogen, was in zehn, zwanzig oder gar fünfundzwanzig Jahren geschehen soll. Dass so was unzuverlässig ist, muss Ihnen doch klar sein, schließlich kann wer weiß was passieren, was die betreffende Person und die damit verbundenen Ereignisse in eine andere Richtung lenkt. Dazu reicht schon ein verpasster Telefonanruf, aber davon lassen Sie sich nicht stören.«
»Sagen wir mal, da hast du nicht ganz unrecht«, sagte Smith. »Aber ist es nicht besser, auf Nummer sicher zu gehen?« Thicher. Thu gehen. »Denk doch mal an die Vorhersagen, die sich bestätigt haben, und stell dir die möglichen Folgen vor, wenn wir nichts unternommen hätten!«
Annie war offenbar nicht ganz mitgekommen. »Woher wolln Sie denn wissen, ob die Vorhersagen stimmen, wenn Sie die Leute, um die’s geht, umbringen?«, fragte sie. »Das kapier ich nich.«
»Er kapiert es auch nicht«, sagte Luke. »Aber er erträgt es nicht, sich vorzustellen, dass diese ganzen Leute vielleicht ohne guten Grund sterben mussten. Das erträgt keiner von denen.«
»Wir mussten das Dorf zerstören, um es zu retten«, sagte Tim. »Hat das nicht jemand über Vietnam gesagt?«
»Wenn das heißen soll, dass unsere präkognitive Gruppe uns an der Nase herumgeführt hat, indem die Mitglieder sich was aus den Fingern gesaugt haben…«
»Können Sie garantieren, dass die das nicht getan haben?«, sagte Luke. »Vielleicht nicht mal bewusst, aber… Sie führen doch ein gutes Leben, oder etwa nicht? Sie haben es gemütlich, ganz im Gegenteil zu uns im Institut. Und vielleicht sind die Vorhersagen ja dann, wenn sie gemacht werden, durchaus korrekt. Aber das bedeutet, dass die Zufallsfaktoren nicht berücksichtigt werden.«
»Und Gott auch nicht«, sagte Kalisha unvermittelt.
Darauf reagierte Smith – der weiß Gott wie lange Gott gespielt hatte – mit einem hämischen Grinsen.
»Ihnen ist doch völlig klar, was ich sage, das weiß ich«, sagte Luke. »Es gibt einfach zu viele Variablen.«
Smith schwieg einen Moment und blickte in die Landschaft. »Ja«, sagte er dann. »Wir haben Mathematiker, und ja, die Bernoulli-Verteilung ist in Berichten und Diskussionen zur Sprache gekommen. Seit Jahren schon. Nehmen wir also an, dass du recht hast. Nehmen wir an, unser Netzwerk aus Instituten hat die Welt nicht fünfhundertmal vor der atomaren Vernichtung gerettet. Angenommen, das ist nur fünfzigmal gelungen. Oder fünfmal. Wäre es das nicht trotzdem wert?«
»Nein«, sagte Tim ganz leise.
Smith starrte ihn an, als wäre er wahnsinnig. »Nein? Sie sagen nein?«
»Wer bei klarem Verstand ist, opfert auf dem Altar der Wahrscheinlichkeit keine Kinder. Das hat mit Wissenschaft nichts zu tun, das ist reiner Aberglaube. Und jetzt sollten Sie allmählich wieder das Weite suchen, glaube ich.«
»Wir werden alles wiederaufbauen«, sagte Smith. »Falls dafür Zeit ist, da die Welt jetzt wie eine Seifenkiste ohne führende Hand in den Abgrund rast. Das wollte ich euch allen sagen und euch warnen. Keine Interviews. Keine Zeitungsartikel. Keine Postings auf Facebook oder Twitter. Über so etwas würden die meisten Leute zwar sowieso nur lachen, aber wir würden es sehr ernst nehmen. Wenn ihr überleben wollt, dann haltet ihr den Mund.«
Das Summen wurde lauter, und als Smith seine American Spirits aus der Brusttasche zog, zitterte seine Hand. Der Mann, der aus dem unauffälligen Chevy gestiegen war, war selbstsicher und von sich überzeugt gewesen. Daran gewöhnt, Anordnungen zu geben, die unverzüglich ausgeführt wurden. Der Mann, der jetzt da stand mit seinem starken Lispeln und den Schweißflecken unter den Achseln, war jemand anderes.
»Ich glaube, Sie machen jetzt wirklich lieber, dass Sie fortkommen«, riet Annie ihm ganz ruhig. Vielleicht sogar freundlich.
Smith fiel die Zigarettenschachtel aus der Hand. Als er sich bückte, um sie aufzuheben, rutschte sie davon, obwohl keinerlei Wind wehte.
»Rauchen ist schlecht für Sie«, sagte Luke. »Man muss keine präkognitiven Fähigkeiten haben, um Ihnen vorauszusagen, was passieren wird, wenn Sie nicht damit aufhören.«
Die Scheibenwischer des Malibu setzten sich in Gang. Die Scheinwerfer flammten auf.
»An Ihrer Stelle würde ich jetzt verschwinden«, sagte Tim. »Solange Sie das noch können. Sie sind zwar offensichtlich sauer, wie es hier gelaufen ist, das ist mir schon klar, aber Sie haben keine Ahnung, wie sauer die Kinder da sind. Die waren bekanntlich im Zentrum dieses Wahnsinns.«
Smith ging zu seinem Wagen und öffnete die Tür. Dann zeigte er mit dem Finger auf Luke. »Du kannst gerne glauben, was du glauben willst«, sagte er. »Das tun wir alle, mein junger Mr. Ellis. Was du mit der Zeit selbst herausfinden wirst. Zu deinem Kummer.«
Als er davonfuhr, schleuderten die Hinterräder des Wagens eine Staubwolke in die Luft, die sich auf Tim und die anderen zubewegte… und dann davonzog wie von einem Windstoß erfasst, den niemand wahrnahm.
Luke lächelte. George hätte das nicht besser machen können, dachte er.
»Wär vielleicht besser gewesen, ihn zu beseitigen«, sagte Annie nüchtern. »Hinten im Garten is massenhaft Platz für ’ne Leiche.«
Luke seufzte und schüttelte den Kopf. »Es gibt genügend andere. Er ist nur die Speerspitze.«
»Außerdem wären wir dann wie die«, sagte Kalisha.
»Trotzdem«, sagte Nicky verträumt. Dann schwieg er, aber Tim musste keine Gedanken lesen, um den Rest zu erraten:… wäre es nett gewesen.
2
Tim hatte Wendy zum Abendessen zurückerwartet, aber sie rief an und sagte, sie müsse über Nacht in Columbia bleiben. Für den folgenden Vormittag war eine weitere Besprechung zur Zukunft der Polizeiarbeit in Fairlee County angesetzt worden.
»Du lieber Himmel, geht das ewig so weiter?«, fragte Tim.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass das die letzte Besprechung ist. Wie du weißt, ist die Lage kompliziert, und die Bürokratie macht es noch schlimmer. Ist bei euch alles in Ordnung?«
»Voll und ganz«, sagte Tim und hoffte, dass das der Wahrheit entsprach.
Zum Essen kochte er einen großen Topf Spaghetti, während Luke eine Bolognese-Soße komponierte und Kalisha mit Nicky einen Salat zubereitete. Annie war verschwunden, wie so oft.
Sie aßen gut. Es gab anregende Gespräche, und es wurde ziemlich viel gelacht. Als Tim dann jedoch einen Kuchen von Pepperidge Farm aus dem Kühlschrank holte und ihn wie ein Operettenkellner mit gehobenen Händen hereintrug, sah er, dass Kalisha weinte. Nicky und Luke hatten jeweils einen Arm um sie gelegt, redeten ihr jedoch nicht tröstend zu (zumindest nicht so, dass Tim es hören konnte). Beide wirkten nachdenklich. Sie waren bei ihr, aber vielleicht nicht vollständig, sondern in ihren eigenen Sorgen versunken.