Scott lächelte. »Ich befürchte, der würde mich sofort zu irgendwelchen Tests ins Krankenhaus stecken. Dabei habe ich gerade erst letzten Monat einen tollen Auftrag an Land gezogen. Es geht darum, verknüpfte Websites für eine Kaufhauskette zu erstellen. Die Einzelheiten erspare ich dir lieber, aber es ist ein Traumjob. Ich hatte einfach großes Glück, den zu bekommen. Und das Ganze kommt mir sehr zupass, weil ich arbeiten kann, ohne von Castle Rock weggehen zu müssen. Das ist das Gute am Computerzeitalter.«
»Aber wenn du krank wirst, kannst du gar nicht arbeiten«, sagte Ellis. »Du bist ein kluger Kerl, Scott, und du weißt bestimmt, dass Gewichtsverlust nicht nur auf Diabetes hinweisen kann, sondern auch auf Krebs. Unter anderem. Um wie viel Kilo geht es eigentlich?«
»Um dreizehn.« Scott blickte durchs Fenster auf die weißen Golfmobile, die unter dem blauen Himmel über grünes Gras fuhren. Als Foto hätte das gut auf die Website von Highland Acres gepasst. Bestimmt hatten die eine – wie alle heutzutage, selbst Budenbesitzer, die am Straßenrand Maiskolben und Äpfel verkauften–, aber die hatte jedenfalls nicht er erstellt. Er beschäftigte sich jetzt mit größeren Sachen. »Bisher.«
Bob Ellis grinste. Die Zähne, die er dabei zeigte, waren noch alle die eigenen. »Das ist eine ganze Menge, schon klar, aber es schadet dir meiner Meinung nach nicht, sie zu verlieren. Für jemand von deiner Größe bewegst du dich auf dem Tennisplatz ganz gut, und im Fitnesscenter verbringst du bekanntlich allerhand Zeit an den Maschinen. Wenn man zu viele Kilos mit sich herumschleppt, belastet das nicht nur das Herz, sondern den ganzen Organismus. Was du ja bestimmt schon weißt. Aus dem Internet.« Er verdrehte die Augen, worauf Scott lächelte. »Wie viel wiegst du jetzt?«
»Rat mal«, sagte Scott.
Ellis lachte. »Was meinst du, wo wir hier sind, bei einer Quizshow? ’nen Blumentopf gibt es jedenfalls nicht zu gewinnen!«
»Wie lange warst du Hausarzt – so an die fünfunddreißig Jahre, ja?«
»Zweiundvierzig.«
»Dann zier dich nicht so. In der Zeit hast du Tausende Patienten gewogen.« Scott erhob sich, groß und wuchtig in seinen Jeans, seinem Flanellhemd und den abgewetzten Stiefeln. Er sah eher wie ein Waldarbeiter oder Cowboy als wie ein Webdesigner aus. »Rat mal, wie schwer ich bin. Zu meinem Schicksal kommen wir später.«
Dr. Bob Ellis ließ seinen geübten Blick an den hundertdreiundneunzig Zentimetern von Scott Carey – mit Stiefeln waren es eher hundertachtundneunzig – auf und ab wandern. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er dem über den Gürtel hängenden Bauch und den langen Oberschenkelmuskeln, aufgebaut durch die Beinpressen und Hackenschmidt-Geräte, auf die er selbst inzwischen verzichtete. »Knöpf das Hemd auf, und zieh es auseinander.«
Als Scott das tat, kam ein graues T-Shirt mit dem Aufdruck UNIVERSITY OF MAINE ATHLETIC DEPARTMENT zum Vorschein. Ellis konnte eine breite, muskulöse Brust sehen, in der sich allerdings jene Fetteinlagerungen entwickelten, die Scherzbolde gern als Männertitten bezeichneten.
»Ich würde sagen…« Er zögerte. Jetzt schien ihn die Herausforderung doch zu reizen. »Ich würde sagen, hundertsieben Kilo. Vielleicht auch hundertzehn. Das heißt, dass du vor dem Gewichtsverlust mehr als hundertzwanzig gewogen hast. Ich muss schon sagen, auf dem Tennisplatz hast du dich damit gut geschlagen. So viel hätte ich nicht erwartet.«
Scott erinnerte sich daran, wie froh er gewesen war, als er am Monatsanfang endlich den Mut aufgebracht hatte, sich auf die Waage zu stellen. Regelrecht begeistert sogar. Dass er seither stetig abgenommen hatte, war besorgniserregend, wohl wahr, aber nur ein bisschen. Es lag an den Klamotten, dass sich seine Sorgen in Furcht verwandelt hatten. Man brauchte kein Gesundheitsportal, um zu wissen, dass das mit den Klamotten nicht nur merkwürdig war; es war verdammt aberwitzig.
Draußen rollte ein Golfmobil vorüber, in dem zwei Männer mittleren Alters saßen, einer in rosa, der andere in grünen Hosen, beide übergewichtig. Die beiden könnten sich echt was Gutes tun, wenn sie das Ding abstellen und ihre Runde zu Fuß absolvieren würden, dachte Scott.
»Scott?«, sagte Ellis. »Hörst du noch zu, oder bist du völlig in den Wolken?«
»Ich höre zu«, sagte Scott. »Als wir das letzte Mal Tennis gespielt haben, hab ich tatsächlich hundertzehn gewogen. Das weiß ich, weil ich mich anschließend endlich auf die Waage gestellt und beschlossen habe, ein paar Kilo abzunehmen. Im dritten Satz hatte ich nämlich keine Puste mehr. Aber heute Morgen habe ich knapp siebenundneunzig gewogen.«
Er setzte sich neben seinen Parka (in dem es wieder klimperte). Ellis betrachtete ihn aufmerksam. »Mir kommst du nicht wie siebenundneunzig Kilo vor, Scott. Entschuldige, dass ich das sage, aber du siehst ein ganzes Stück schwerer aus.«
»Aber gesund?«
»Ja.«
»Nicht krank.«
»Nein. Jedenfalls nicht dem Augenschein nach, aber…«
»Habt ihr eine Waage? Bestimmt habt ihr eine. Los, prüfen wir es nach!«
Ellis sah ihn einen Moment nachdenklich an, weil er sich fragte, ob das eigentliche Problem von Scott mit den grauen Zellen hinter den Augenbrauen zu tun hatte. Nach seiner Erfahrung hatten hauptsächlich Frauen eine neurotische Beziehung zu ihrem Gewicht, obwohl das bei Männern durchaus auch vorkam. »Na gut, dann tun wir das eben. Komm mit.«
Er führte Scott in ein Arbeitszimmer voller Bücherregale. An einer der Wände hing eine gerahmte Anatomietafel, an einer anderen eine Reihe Diplome. Scott starrte auf den Briefbeschwerer, der zwischen dem Computer und dem Drucker stand. Ellis folgte seinem Blick und lachte. Er nahm den Schädel vom Tisch und warf ihn Scott zu.
»Der ist aus Plastik, nicht aus Knochen, also kannst du ihn gerne fallen lassen. Ein Geschenk von meinem ältesten Enkel. Der ist dreizehn, was offenbar das Alter der geschmacklosen Geschenke ist. Komm hierher, dann sehen wir mal, was sich ergibt.«
In der Ecke stand eine Arztwaage mit einem Querstab, auf dem man zwei Gewichte, eines groß und eines klein, verschieben konnte, bis er sich im Gleichgewicht befand. Ellis tätschelte die Waage. »Als ich im Stadtzentrum meine Praxis zugemacht habe, habe ich nur zwei Dinge behalten: die Anatomietafel an der Wand und das Ding hier. Es ist eine von Seca und die beste medizinische Waage, die man je hergestellt hat. Ein Geschenk von meiner Frau, vor vielen Jahren, und du kannst mir glauben, dass der niemand je vorgeworfen hat, keinen Geschmack zu haben. Oder geizig zu sein.«
»Ist sie exakt?«
»Sagen wir mal, wenn ich einen Viertelzentnersack Mehl draufstelle und der laut Anzeige bloß vierundzwanzig Pfund wiegt, würde ich zum Laden fahren und reklamieren. Du solltest natürlich die Stiefel ausziehen, wenn du dein richtiges Gewicht auch nur annähernd erfahren willst. Und wieso hast du deine Jacke mitgebracht?«
»Das wirst du gleich sehen.« Anstatt die Stiefel auszuziehen, zog Scott sogar seinen Parka mit den klimpernden Taschen wieder an. Voll bekleidet, und das auch noch für einen wesentlich kälteren Tag, trat er auf die Waage. »Leg los!«
Unter Berücksichtigung von Schuhwerk und voller Bekleidung stellte Ellis die Waage großzügig auf hundertfünfzehn Kilo ein, um dann zu tarieren. Er schob das Gegengewicht erst zügig, dann stückchenweise weiter. Die Zunge der Anzeige blieb bei hundertzehn, hundertfünf und sogar noch bei hundert am Anschlag, was er für unmöglich gehalten hätte. Selbst ohne Parka und Stiefel sah Scott Carey einfach schwerer aus. Ellis hätte sich zwar um ein paar Pfund verschätzen können, aber um derart danebenzuliegen, hatte er in seinem Leben eigentlich zu viele übergewichtige Männer und Frauen gewogen.