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Seine Mutter winkte ihm. Er winkte zurück und rannte zu ihrem Wagen. Als er eingestiegen war und sich angeschnallt hatte, erkundigte sie sich, wie er seiner Meinung nach abgeschnitten habe.

»Mit links!«, sagte Luke. Er stellte sein sonnigstes Grinsen zur Schau, musste jedoch dauernd an das rothaarige Mädchen denken. Dass sie jetzt weinte, war schlimm, aber wie sie den Kopf hatte hängen lassen, als er sie auf den Fehler in ihrer Gleichung hingewiesen hatte – wie eine Blume in zu trockener Erde–, war noch schlimmer gewesen.

Er wollte sich zwingen, nicht mehr darüber nachzudenken, aber das klappte natürlich nicht. »Versuch, nicht an einen Eisbären zu denken«, hatte Fjodor Dostojewski einmal geschrieben. »Und du wirst sehen, dass das verfluchte Ding dir jede Minute in den Sinn kommt.«

»Mama?«

»Was denn?«

»Meinst du, unser Erinnerungsvermögen ist ein Segen oder ein Fluch?«

Darüber musste sie gar nicht erst nachdenken; offenbar erinnerte sie sich an weiß Gott was. »Beides, Schatz.«

6

Während Tim Jamieson im Juni um zwei Uhr morgens nachtklopfend die Hauptstraße von DuPray entlangging, bog in einem nördlichen Außenbezirk von Minneapolis ein schwarzer SUV in den Wildersmoot Drive ein. Das war ein irrer Straßenname; Luke und sein Freund Rolf sagten stattdessen Wilderschmus Drive, zum einen, weil der Name dadurch noch irrer wurde, und zum anderen, weil sie sich beide wie wild danach sehnten, mit einem Mädchen zu schmusen.

In dem SUV saßen ein Mann und zwei Frauen. Der Mann hieß Denny, die Frauen waren Michelle und Robin. Denny saß am Steuer. Als sie die Hälfte der gewundenen, stillen Straße hinter sich hatten, schaltete er die Scheinwerfer aus, ließ den Wagen an den Bordstein rollen und stellte den Motor ab. »Ihr seid euch sicher, dass der kein TP ist, oder? Ich hab nämlich meinen Aluhut nicht mitgebracht.«

»Ha, ha«, machte Robin absolut tonlos. Sie saß auf dem Rücksitz.

»Er ist bloß ein durchschnittlicher TK«, sagte Michelle. »Kein Grund, dir in die Gummihose zu pinkeln. Machen wir uns ans Werk.«

Denny klappte die Konsole zwischen den beiden Vordersitzen auf und entnahm ihr ein Mobiltelefon, das wie ein Flüchtling aus den Neunzigern aussah: kantige, rechteckige Form mit Antennenstummel. Er reichte es Michelle. Während sie eine Nummer wählte, öffnete er den falschen Boden der Konsole und holte dünne Latexhandschuhe, zwei Glock Modell 37 und eine Sprühdose heraus, die laut Etikett ein Raumspray der Firma Glade enthielt. Eine der Pistolen reichte er Robin nach hinten, eine behielt er selbst. Die Sprühdose gab er Michelle.

»Jetzt geht’s um die Wurst, Leute!«, rief er, während er sich die Handschuhe überzog. »Ruby Red tritt in Aktion!«

»Hör auf mit dem pubertären Quatsch«, sagte Michelle. Sie klemmte das Telefon zwischen Schulter und Ohr, um ebenfalls Handschuhe anzuziehen. »Symonds, bist du da?«, sprach sie hinein.

»Bin ich«, sagte Symonds.

»Hier spricht Ruby Red. Wir sind jetzt vor Ort. System deaktivieren.«

Sie wartete auf die Bestätigung durch Jerry Symonds. Im Haus der Familie Ellis, wo Luke und seine Eltern schlafend in ihren Betten lagen, erloschen die Bedienfelder der Alarmanlage im Flur und in der Küche. Sobald Michelle grünes Licht bekommen hatte, hob sie den Daumen. »Okay. Alles klar.«

Robin schlang sich den Einsatzbeutel, der wie eine mittelgroße Damenhandtasche aussah, über die Schulter. Als sie ausstiegen, ging im Innern des SUVs, dessen Nummernschilder ihn als Fahrzeug der Minnesota State Patrol auswiesen, kein Licht an. Im Gänsemarsch gingen sie am Nachbarhaus entlang (wo Rolf ebenfalls schlafend im Bett lag und vielleicht gerade davon träumte, wild zu schmusen) und betraten das Haus von Lukes Eltern durch die Tür zur Küche. Robin ging voran, weil sie den Schlüssel hatte.

Am Herd blieben sie stehen. Aus dem Einsatzbeutel zog Robin zwei kompakte Schalldämpfer und drei leichte Spezialbrillen mit elastischen Bändern. Die Brillen verliehen den Gesichtern der drei einen insektenhaften Touch, sorgten jedoch dafür, dass die dunkle Küche plötzlich hell wurde. Denny und Robin schraubten die Schalldämpfer auf, dann ging Michelle voran ins Wohnzimmer, von da aus in den Hausflur und zur Treppe.

Oben angelangt, schlichen sie behutsam, aber mit einer gesunden Portion Selbstvertrauen durch den Flur. Ein dicker Läufer dämpfte ihre Schritte. Vor der ersten geschlossenen Tür blieben Denny und Robin stehen, Michelle ging zur zweiten weiter. Sie warf einen Blick auf ihre Gefährten und klemmte sich die Sprühdose unter den Arm, damit sie beide Hände mit gespreizten Fingern heben konnte: Lasst mir zehn Sekunden Zeit. Robin nickte und hob den Daumen.

Als Michelle Lukes Zimmer betrat, quietschte die Tür leise in den Angeln. Die Gestalt im Bett, von der nur der Haarschopf zu sehen war, regte sich kurz und beruhigte sich wieder. Um zwei Uhr morgens hätte der Junge eigentlich im tiefsten Tiefschlaf liegen sollen, aber das war eindeutig nicht der Fall. Vielleicht schliefen geniale Kinder anders als normale, wer wusste das schon? Michelle Robertson bestimmt nicht. An der Wand hingen zwei Poster, die beide durch die Brille so gut sichtbar waren wie bei Tageslicht. Auf einem sah man einen Skateboarder im Flug, mit gebeugten Knien, ausgestreckten Armen und nach oben abgewinkelten Händen. Das andere stellte die Ramones dar, eine Punkband, deren Musik Michelle sich damals in ihrer Schulzeit ganz gern angehört hatte. Wahrscheinlich waren die Mitglieder inzwischen alle tot und zum großen Rockaway Beach im Himmel oben entschwunden.

Während sie durch den Raum ging, zählte sie im Kopf: vierundzwanzig… fünfundzwanzig…

Bei sechsundzwanzig stieß sie mit der Hüfte an den Schreibtisch des Jungen. Auf dem stand irgendein Pokal, der prompt umfiel. Obwohl das entstehende Geräusch nicht besonders laut war, drehte der Junge sich auf den Rücken und öffnete die Augen. »Mama?«

»Klar«, sagte Michelle. »Alles, was du verlangst.«

In den Augen des Jungen sah sie einen Anflug von Angst. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Michelle hielt den Atem an und drückte auf die Sprühdose, gerade mal fünf Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Er wurde sofort bewusstlos. Das war immer so, und wenn die Kids sechs bis acht Stunden später wieder aufwachten, litten sie nie unter irgendwelchen Nachwirkungen. Besser leben mit Chemie, dachte Michelle und zählte weiter: siebenundzwanzig… achtundzwanzig… neunundzwanzig…

Bei dreißig betraten Denny und Robin das Schlafzimmer von Herb und Eileen Ellis. Das Erste, was sie sahen, stellte ein Problem dar: Die Frau lag nicht im Bett. Die Tür zum Bad stand offen; ein Trapez aus Licht fiel auf den Boden. Es war zu hell für die Brillen, weshalb sie die abnahmen und einfach fallen ließen. Hier war der Boden aus poliertem Hartholz, und das doppelte Klacken war in dem stillen Zimmer deutlich hörbar.

»Herb?«, hörte man eine leise Stimme im Badezimmer. »Hast du etwa das Wasserglas umgestoßen?«

Robin trat zum Bett, griff nach hinten und zog die Glock aus ihrem Hosenbund, während Denny zur Badezimmertür ging, ohne auch nur den Versuch zu machen, seine Schritte zu dämpfen. Dafür war es zu spät. Er stellte sich neben die Tür und hob mit angewinkeltem Ellbogen die Waffe, sodass die Mündung nach oben zeigte.

Das Kissen auf der leeren Seite des Betts war noch vom Kopf der Frau, die da gelegen hatte, eingedellt. Robin zog es dem Mann aufs Gesicht und feuerte hinein. Die Glock gab lediglich ein leises Husten von sich. Aus den Öffnungen am Lauf sprühte ein bisschen brauner Dreck aufs Kissen.