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Luke trat auf den Flur. Rechts von ihm endete der an einer zweiflügeligen, mit Druckstangen ausgestatteten Tür, wie man sie in öffentlichen Gebäuden fand. Links hockte etwa drei Meter vor noch so einer Tür ein Mädchen auf dem Boden. Obwohl sie etwa so alt wie Luke war, schien sie eine Zigarette zu rauchen.

8

Mrs. Sigsby saß an ihrem Schreibtisch und blickte auf den Bildschirm ihres Computers. Sie trug ein eng anliegendes Geschäftskostüm von DVF, das ihre übermäßig hagere Gestalt in keiner Weise verschleierte. Ihre grauen Haare waren perfekt frisiert. Hinter ihrer Schulter stand Dr. Hendricks. Guten Morgen, du Vogelscheuche, dachte er, aber gesagt hätte er das nie.

»Tja, das ist er«, sagte Mrs. Sigsby. »Unser Neuankömmling. Ist zum ersten und einzigen Mal mit einer Challenger geflogen und weiß es nicht einmal. Nach allem, was man hört, ist er ein echtes Wunderkind.«

»Lange wird er das nicht mehr sein«, sagte Dr. Hendricks und gab das für ihn typische Lachen von sich, bei dem er erst aus- und dann einatmete, was sich wie ein Iahen anhörte. Zusammen mit seinen vorstehenden Vorderzähnen und seiner gewaltigen Körpergröße – er war knapp über zwei Meter groß – war das der Grund für den Spitznamen, mit dem die MTAs ihn bedachten: Donkey Kong.

Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn scharf an. »Das sind unsere Schützlinge. Billige Witze sind da nicht angebracht, Dan.«

»Tut mir leid.« Am liebsten hätte er hinzugefügt: Wem willst du da eigentlich was vormachen, Siggers?

So etwas laut auszusprechen wäre unhöflich gewesen, und außerdem war die Frage bestenfalls rhetorisch. Er wusste, dass sie niemand etwas vormachte, am wenigsten sich selbst. Siggers war wie jener unbekannte Naziwitzbold, der es für eine fantastische Idee gehalten hatte, über dem Eingang von Auschwitz den Spruch Arbeit macht frei anzubringen.

Mrs. Sigsby hob das Aufnahmeformular für den neuen Jungen in die Höhe. In die rechte obere Ecke hatte Hendricks einen rosa Punkt geklebt. »Bringt Ihre Arbeit mit den Pinks eigentlich etwas, Dan? Irgendetwas?«

»Das wissen Sie doch. Sie haben ja die Ergebnisse gesehen.«

»Ja, aber irgendwas, was nachweislich Wert hat?«

Bevor der gute Doktor etwas erwidern konnte, steckte Rosalind den Kopf durch die Tür. »Ich habe allerhand Papierkram für Sie, Mrs. Sigsby. Es kommen nämlich noch fünf weitere. Die stehen zwar bestimmt schon auf Ihrer Liste, aber sie treffen früher als geplant ein.«

Mrs. Sigsby blickte erfreut drein. »Alle fünf schon heute! Anscheinend führe ich ein korrektes Leben!«

Du kannst nicht einfach sagen, offensichtlich mach ich irgendwas richtig, dachte Hendricks (alias Donkey Kong). Dir könnte glatt ein Zacken aus der Pedantenkrone fallen.

»Also, heute kommen nur zwei«, sagte Rosalind. »Heute Nacht, genauer gesagt. Von Team Smaragd. Drei kommen morgen von Team Opal. Vier sind TK. Einer ist TP, und der ist ein richtig guter Fang. Dreiundneunzig Nanogramm BDNF.«

»Avery Dixon, nicht wahr?«, sagte Mrs. Sigsby. »Aus Salt Lake City.«

»Aus Orem«, berichtigte Rosalind.

»Ein Mormone aus Orem«, sagte Dr. Hendricks und brach in sein wieherndes Lachen aus.

Das ist wirklich ein guter Fang, dachte Mrs. Sigsby. Auf Dixons Formular würde kein rosa Punkt kleben. Dafür war er zu wertvoll. Kein Fall für viele Injektionen, riskante Krampfanfälle und die Vorstellung zu ertrinken. Bei einem BDNF von über 90 kam das nicht infrage.

»Ausgezeichnete Nachrichten. Wirklich ausgezeichnet. Holen Sie gleich mal die Akten, und legen Sie sie auf meinen Schreibtisch. Per E-Mail haben Sie alles wohl schon geschickt?«

»Natürlich.« Rosalind lächelte. Die ganze Welt kommunizierte per E-Mail, aber es war bekannt, dass Mrs. Sigsby lieber Papier als Pixel vor sich hatte; in der Hinsicht war sie vom alten Schlag. »Ich hole die Akten unverzüglich.«

»Samt Kaffee, bitte, und zwar ebenfalls unverzüglich.«

Mrs. Sigsby wandte sich Dr. Hendricks zu. So ein langer Lulatsch, und trotzdem schleppt er eine Wampe mit sich rum, dachte sie. Als Arzt hätte er wissen sollen, wie gefährlich das war, besonders für jemand von seiner Größe, bei dem das Gefäßsystem ohnehin schon härter arbeiten musste. Aber bekanntlich war niemand so gut darin, die medizinischen Realitäten zu ignorieren, wie ein Mediziner.

Weder Mrs. Sigsby noch Hendricks waren TP, hatten in diesem Augenblick jedoch trotzdem denselben Gedanken: Wie viel leichter alles doch wäre, wenn man sich mögen anstatt gegenseitig verabscheuen würde!

Sobald die beiden wieder allein waren, lehnte Mrs. Sigsby sich zurück und blickte den über ihr aufragenden Arzt an. »Ich stimme mit Ihnen überein, dass die Intelligenz des jungen Mr. Ellis keine Bedeutung für unsere Arbeit im Institut hat. Er könnte genauso gut einen IQ von fünfundsiebzig haben. Allerdings ist die Intelligenz genau der Grund, weshalb wir ihn relativ früh einkassiert haben. Schließlich ist er nicht nur an einem, sondern an gleich zwei erstklassigen Colleges angenommen worden, am MIT und am Emerson.«

Hendricks blinzelte. »Mit zwölf?«

»Richtig. Die Ermordung seiner Eltern und sein anschließendes Verschwinden werden zwar Schlagzeilen machen, aber außerhalb der Twin Cities keine großen Wellen schlagen. Eventuell läuft die Sache eine Woche lang durchs Internet. Wesentlich mehr Aufsehen hätte es erregt, wenn er sich vorher in Boston als akademische Sensation etabliert hätte. Kinder, die so was schaffen, bringt man gern in den Fernsehnachrichten, damit die Leute was zu staunen haben. Und was sage ich immer, Doc?«

»Dass in unserem Metier keine Nachrichten gute Nachrichten sind.«

»Genau. Wenn alles perfekt liefe, hätten wir auf so jemand verzichtet. An TKs haben wir bekanntlich keinen Mangel.« Sie tippte auf den rosa Punkt auf dem Formular. »Das weist darauf hin, dass sein BDNF nicht mal besonders hoch ist. Allerdings…«

Sie musste nicht zu Ende sprechen. Bestimmte Ressourcen wurden allmählich seltener. Elefantenstoßzähne. Tigerfelle. Rhinozeroshörner. Seltene Metalle. Sogar Erdöl. Dazu kamen neuerdings auch solche speziellen Kinder, deren außergewöhnliche Eigenschaften nichts mit ihrem IQ zu tun hatten. In dieser Woche würden noch weitere fünf eintreffen, darunter der kleine Dixon. Ein sehr guter Fang, aber noch vor zwei Jahren hätten sie womöglich dreißig schnappen können.

»Ach, sehen Sie mal!«, sagte Mrs. Sigsby. Auf dem Bildschirm ihres Computers näherte sich der Neuankömmling der dienstältesten Insassin des Vorderbaus. »Gleich wird er Benson kennenlernen, dieses neunmalkluge Ding. Die wird ihm die Situation erläutern… beziehungsweise eine Version davon.«

»Tja, die ist immer noch im Vorderbau«, sagte Hendricks. »Wir sollten sie zum Empfangskomitee ernennen, verdammt noch mal.«

Mrs. Sigsby bedachte ihn mit ihrem eisigsten Lächeln. »Dazu wäre sie jedenfalls besser geeignet als Sie, Doc.«

Hendricks blickte auf sie hinunter. Von hier oben kann ich sehen, wie schnell deine Haare dünner werden, Siggers, hätte er gern gesagt. Das ist eine Folge deiner leichten, aber schon lange praktizierten Anorexie. Deine Kopfhaut ist so rosa wie die Augen eines Albinokaninchens.

Es gab vieles, was er gern zu ihr gesagt hätte, zu dieser grammatikalisch perfekten, tittenlosen Verwaltungschefin des Instituts. Aber er sagte nie etwas. Es wäre unklug gewesen.