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Auf dem Weg durch den aus Hohlblocksteinen gemauerten Flur kam Luke an mehreren Türen und weiteren Postern vorüber. Das Mädchen saß unter einem Plakat, auf dem ein schwarzer Junge und ein weißes Mädchen die Stirn aneinandergelegt hatten und dabei wie Volltrottel grinsten. Der Spruch darunter lautete: ENTSCHIEDEN GLÜCKLICH!

»Na, wie gefällt dir das?«, fragte das schwarze Mädchen. Aus der Nähe stellte sich heraus, dass die aus ihrem Mund hängende Zigarette aus Zuckerzeug war. »Ich würde ja gerne ENTSCHIEDEN FICKDICH draus machen, aber dann würden sie mir wahrscheinlich meinen Kugelschreiber wegnehmen. Manchmal lassen sie einem solchen Scheiß durchgehen, aber nicht immer. Das Problem ist, dass man nicht sagen kann, wie die Dinge sich entwickeln werden.«

»Wo bin ich hier?«, fragte Luke. »Was ist das für ein Ort?« Er hätte am liebsten losgeheult. Was wohl hauptsächlich daran lag, dass er desorientiert war.

»Willkommen im Institut«, sagte sie.

»Sind wir noch in Minneapolis?«

Sie lachte. »Ganz im Gegenteil. Und in Kansas sind wir auch nicht mehr, Toto. Wir sind in Maine. Irgendwo in der Pampa. Jedenfalls behauptet das Maureen.«

»In Maine?« Er schüttelte den Kopf, als hätte er einen Faustschlag an die Schläfe bekommen. »Echt jetzt?«

»Jep. Du siehst mächtig weiß aus, weißer Junge. Ich glaube, du solltest dich hinsetzen, bevor du umkippst.«

Während er sich auf den Boden setzte, stützte er sich mit einer Hand ab, weil seine Beine sich nicht so beugten, wie sie es hätten tun sollen. Es war eher wie ein Kollaps.

»Ich war zu Hause«, sagte er. »Ich war zu Hause, und dann bin ich hier aufgewacht. In einem Zimmer, das wie mein Zimmer aussieht, es aber nicht ist.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Ziemlicher Schock, was?« Sie zwängte die Hand in ihre Hosentasche und zog ein Schächtelchen heraus. Geschmückt war es mit dem Bild eines Cowboys, der ein Lasso schwang. RODEO ZUCKER-ZIGARETTEN stand darauf. RAUCH WIE DEIN DADDY! »Willst du eine? In deinem Geisteszustand ist ein bisschen Zucker vielleicht hilfreich. Mir hilft so was in solchen Fällen immer.«

Luke nahm das Schächtelchen entgegen. Es waren noch sechs Zigaretten übrig, die alle eine rote Spitze hatten. Das sollte wohl die Glut darstellen. Er zog eine heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen und biss sie in zwei Teile. Süße überflutete seinen Mund.

»Tu das bloß nicht mit einer echten Zigarette«, sagte sie. »Das schmeckt nämlich nicht halb so gut.«

»Ich wusste gar nicht, dass so Zeug überhaupt noch verkauft wird«, sagte er.

»Die Sorte hier verkaufen sie sicher nicht mehr«, sagte sie. »Rauchen wie dein Daddy? Was für ein Schwachsinn. Das muss eine Antiquität sein. Allerdings haben sie im Aufenthaltsraum allerhand krassen Scheiß. Unter anderem echte Zigaretten, kaum zu glauben. Sämtliche Marken, Lucky Strike und Chesterfield und Camel, genau wie in den alten Filmen auf Turner Classic Movies. Ich würde ja gerne mal welche probieren, aber Mann, dafür braucht man massenhaft Münzen.«

»Echte Zigaretten? Du meinst doch nicht etwa für Kinder?«

»Kinder sind hier die einzigen Insassen. Momentan sind hier im Vorderbau allerdings nicht so viele. Maureen meint, es kommen wahrscheinlich wieder welche. Ich weiß nicht, wo sie ihre Informationen herhat, aber normalerweise stimmen die.«

»Zigaretten für Kinder? Was ist das hier? Die Vergnügungsinsel?« Nicht dass er gerade besonders vergnügt gewesen wäre.

Darüber musste sie lachen. »Wie in Pinocchio! Nicht schlecht!« Sie hob die Hand. Luke klatschte sie ab und fühlte sich daraufhin ein bisschen besser. Schwer zu sagen, weshalb.

»Wie heißt du eigentlich? Ich kann dich schließlich nicht bloß weißer Junge nennen. Das wäre ja ’ne Art Rassendiskriminierung.«

»Luke Ellis. Und wer bist du?«

»Kalisha Benson.« Sie hob den Zeigefinger. »Jetzt pass gut auf, Luke. Du kannst Kalisha oder einfach Sha zu mir sagen. Aber sag bloß nicht Kumpel zu mir.«

»Wieso nicht?« Er versuchte immer noch, sich zurechtzufinden, was ihm jedoch nicht gelang. Nicht mal annähernd. Er steckte sich die andere Hälfte der Zigarette in den Mund, die mit der nachgemachten Glut am Ende.

»Weil das Hendricks und die anderen Penner sagen, wenn sie dir eine Spritze geben oder ihre Tests machen. ›Ich stecke dir jetzt eine Nadel in den Arm, was wehtun wird, aber sei einfach mal ein guter Kumpel. Ich mach bei dir jetzt einen Rachenabstrich, bei dem du sicher wie verfickt würgen musst, aber sei ein guter Kumpel. Wir tauchen dich jetzt in den Wassertank, aber halt dabei einfach den Atem an und sei ein guter Kumpel.‹ Deshalb darfst du nicht Kumpel zu mir sagen.«

Der Sache mit den Tests schenkte Luke kaum Aufmerksamkeit, darüber würde er später nachdenken. Er dachte über das Wort verfickt nach. Von Jungen hatte er das oft gehört (auch er und Rolf verwendeten es, wenn sie zusammen waren), und er hatte es von der hübschen Rothaarigen gehört, die wahrscheinlich ihre Zugangsprüfung verbockt hatte, aber noch nie von einem Mädchen seines Alters. Das bedeutete wohl, dass er bisher ein behütetes Leben geführt hatte.

Sie legte ihm die Hand aufs Knie, was bei ihm ein leichtes Kribbeln hervorrief, und sah ihn ernsthaft an. »Aber ich würde dir raten, trotzdem ein guter Kumpel zu sein, egal wie beschissen es läuft und egal was sie dir in den Hals oder den Hintern stecken. Über den Wassertank weiß ich nicht richtig Bescheid, das hat man mit mir noch nicht gemacht, ich hab bloß davon gehört, aber solange sie Tests mit dir machen, bleibst du im Vorderbau, das ist mal sicher. Was im Hinterbau läuft, weiß ich nicht, und ich will es auch nicht wissen. Ich weiß bloß, dass es da wie im Bermuda-Dreieck ist – man kommt zwar rein, aber nicht wieder raus. Jedenfalls kommt man nicht hierher zurück.«

Er blickte in die Richtung, aus der er gekommen war. An der Wand hingen allerhand aufmunternde Poster, außerdem sah man allerhand Türen, etwa acht auf jeder Seite. »Wie viele Kids sind in den Zimmern da?«

»Fünf, du und ich eingerechnet«, sagte sie. »Ganz voll ist es hier im Vorderbau nie, aber momentan ist es wie in ’ner Geisterstadt. Die Kids kommen und gehen.«

»Und schwätzen so daher von Michelangelo«, murmelte Luke.

»Hä?«

»Nichts. Was…«

Einer der Türflügel am näheren Ende des Flurs ging auf, und eine Frau in einem braunen Kleid tauchte auf. Sie hatte den beiden den Rücken zugewandt und hielt die Tür mit ihrem Hintern auf, während sie sich mit irgendetwas abmühte. Kalisha sprang augenblicklich auf. »Moment, Maureen, Moment, wart mal, wir helfen dir schon!«

Da Kalisha wir anstatt ich gesagt hatte, stand Luke ebenfalls auf und ging hinter ihr her. Aus der Nähe sah er, dass es sich bei dem braunen Kleid um eine Art Uniform handelte, wie von einem Zimmermädchen in einem mondänen Hotel – na ja, eher in einem mittelmäßig mondänen Hotel, da das Ding nicht mit Rüschen oder Ähnlichem verziert war. Die Frau versuchte, einen Wäschewagen über die Metallschwelle zwischen dem Flur und dem großen Raum jenseits davon zu ziehen – offenbar einem Aufenthaltsraum. Er enthielt Tische, Stühle und Sessel, außerdem einen Fernseher, der fast so groß wie eine Kinoleinwand war, und durch die Fenster strömte helles Sonnenlicht herein. Kalisha öffnete den anderen Türflügel, um Platz zu schaffen. Luke fasste den Wäschewagen (auf der Seite stand DANDUX) und half der Frau, ihn in den Flur des Wohnheims zu ziehen, in dem sie sich offenbar befanden. Im Wagen lagen Bettwäsche und Handtücher.

»Vielen Dank, mein Junge«, sagte die Frau. Sie war ziemlich alt, hatte viel Grau in den Haaren und sah müde aus. Auf dem Namensschildchen über ihrer schlaffen linken Brust stand MAUREEN. Sie musterte ihn. »Du bist neu. Luke, nicht wahr?«