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»Luke Ellis. Woher wissen Sie das?«

»Steht auf meinem Tagesplan.« Sie zog ein gefaltetes Blatt Papier halb aus der Tasche ihres Rocks und schob es wieder hinein.

Luke streckte ihr die Hand hin, wie man es ihm beigebracht hatte. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Maureen begrüßte ihn. Sie war anscheinend ganz nett, also freute er sich wohl tatsächlich, sie kennenzulernen. An diesem Ort zu sein freute ihn jedoch gar nicht; er hatte Angst und machte sich Sorgen um sich selbst und um seine Eltern. Bestimmt vermissten die ihn inzwischen. Sie würden zwar nur ungern glauben, dass er weggelaufen war, aber welchen anderen Schluss konnten sie ziehen, wenn sie sein Zimmer leer vorfanden? Bald würde die Polizei nach ihm suchen, wenn sie das nicht bereits tat. Wenn Kalisha recht hatte, würde die Suche allerdings weit weg von hier stattfinden.

Die Handfläche von Maureen war warm und trocken. »Ich bin Maureen Alvorson. Ich kümmere mich um den Haushalt und alles andere, was gerade anfällt. Zum Beispiel werde ich dafür sorgen, dass du immer ein sauberes Zimmer hast.«

»Mach ihr bloß keine Extraarbeit«, sagte Kalisha und warf ihm einen strengen Blick zu.

Maureen lächelte. »Du bist ein echter Schatz, Kalisha, aber der da sieht nicht so aus, als tät er so ein Durcheinander anrichten wie dieser Nicky. Der ist wie Pig Pen von den Peanuts. Ist er jetzt eigentlich in seinem Zimmer? George und Iris sind draußen auf dem Spielplatz, aber da hab ich ihn nicht gesehen.«

»Sie kennen Nicky doch«, sagte Kalisha. »Wenn der vor ein Uhr nachmittags aufsteht, hält er das für früh.«

»Dann mache ich jetzt bloß die anderen Zimmer sauber, aber um eins wollen die Docs ihn haben. Wenn er dann noch nicht auf ist, wird man ihm auf die Sprünge helfen. Schön, dich kennenzulernen, Luke.« Damit ging sie ihres Weges, wobei sie den Wäschewagen vor sich herschob, anstatt ihn zu ziehen.

»Komm«, sagte Kalisha und nahm Luke bei der Hand. Sosehr er sich auch Sorgen um seine Eltern machte, spürte er wieder dieses Kribbeln.

Sie zog ihn in den Aufenthaltsraum. Den hätte er gern erkundet, vor allem die Warenautomaten (echte Zigaretten, war das wirklich möglich?), doch sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, baute Kalisha sich vor ihm auf. Sie blickte ernst, ja beinahe grimmig drein.

»Ich weiß zwar nicht, wie lange du hier sein wirst – oder wie lange ich noch hier sein werde–, aber solange du’s bist, sei cool zu Maureen, okay? Hier arbeiten ein paar echt gemeine Scheißkerle, aber sie gehört nicht dazu. Sie ist nett. Und sie hat Probleme.«

»Was für welche?« Das fragte er vor allem aus Höflichkeit. Er blickte aus dem Fenster auf das, was der Spielplatz sein musste. Dort sah er zwei Kids, einen Jungen und ein Mädchen, vielleicht so alt wie er, vielleicht auch ein bisschen älter.

»Vor allem meint sie, dass sie krank ist, aber sie will nicht zum Arzt gehen, weil sie es sich nicht leisten kann, krank zu sein. Sie verdient bloß vierzigtausend Dollar im Jahr und hat in etwa doppelt so viel Schulden. Vielleicht sogar mehr. Die hat ihr Mann angehäuft, bevor er abgehauen ist. Und sie werden immer höher, weißt du? Durch die Zinsen.«

»Durch den Wucher«, sagte Luke. »So nennt mein Dad es. Den gibt’s schon seit den alten Sumerern. Eigentlich ist es ein Verbrechen, und mein Dad sagt, die Kreditkartenfirmen sind im Grunde Verbrecher. Wenn man sich den Zinseszins anschaut, den sie verlangen, hat er vielleicht…«

»Was hat er? Recht?«

»Genau.« Luke wandte den Blick von den Kindern draußen ab – es musste sich um George und Iris handeln – und sah Kalisha an. »Das hat sie dir alles erzählt? Obwohl du noch ein Kind bist? Was interpersonelle Beziehungen angeht, bist du offenbar echt begabt.«

Kalisha blickte verblüfft drein, dann lachte sie laut los. Dabei stemmte sie die Hände in die Hüften und warf den Kopf zurück, wodurch sie nicht mehr wie ein Kind, sondern wie eine richtige Frau aussah. »Intrapersonelle Beziehungen! Du klopfst ja Sprüche, Lukey!«

»Inter, nicht intra«, sagte er. »Außer man kommt mit einer ganzen Gruppe zusammen. Zur Schuldenberatung oder so.« Er machte eine Pause. »Das, äh, war ein Witz.« Und zwar ein ziemlich lahmer. Ein nerdiger Witz.

Sie musterte ihn abwägend, von oben bis unten und dann wieder bis oben, was erneut dieses nicht unangenehme Kribbeln hervorrief. »Sag mal, wie gescheit bist du eigentlich?«

Leicht verlegen zuckte er die Achseln. Normalerweise gab er damit nicht an – es war die schlechteste Methode auf der Welt, Freunde zu gewinnen und sich beliebt zu machen–, aber er war durcheinander, verwirrt, besorgt, und er hatte (was er genauso gut zugeben konnte) eine Scheißangst. Es fiel ihm zunehmend schwerer, das, was geschehen war, nicht mit dem Begriff Kindesentführung zu bezeichnen. Schließlich war er ein Kind, und wenn Kalisha die Wahrheit sagte, war er Tausende Meilen von zu Hause aufgewacht. Hätten seine Eltern ihn abtransportieren lassen, ohne zu protestieren oder sich handgreiflich zu wehren? Unwahrscheinlich. Egal was man mit ihm gemacht hatte, er hoffte, dass die beiden dabei nicht aufgewacht waren.

»Ich tippe auf verdammt gescheit. Bist du TP oder TK? Ich glaube, eher TK.«

»Und ich hab keine Ahnung, wovon du da redest.«

Oder vielleicht doch. Er dachte daran, wie manchmal die Teller in den Schränken klapperten, wie die Tür seines Zimmers von allein auf- oder zuging und wie das Blech in der Pizzeria vom Tisch gerutscht war. Und daran, wie bei der Zugangsprüfung der Mülleimer von selbst über den Boden gewandert war.

»TP ist Telepathie«, sagte Kalisha. »Und TK ist…«

»Telekinese.«

Grinsend richtete sie den Zeigefinger auf ihn. »Du bist echt ein gescheiter Junge. Telekinese, genau. Du bist entweder das eine oder das andere, beides ist angeblich niemand – jedenfalls behaupten das die MTAs. Ich bin TP.« Das sagte sie mit gewissem Stolz.

»Das heißt, du kannst Gedanken lesen«, sagte Luke. »Klar. Jeden Tag einmal. Und am Sonntag zweimal.«

»Was meinst du, woher ich über Maureen Bescheid weiß? Die würde niemand hier von ihren Problemen erzählen, so jemand ist sie einfach nicht. Allerdings weiß ich keine Einzelheiten, bloß ihre allgemeine Situation.« Sie überlegte. »Außerdem ist da noch was mit einem Kind. Was komisch ist. Ich hab sie einmal gefragt, ob sie Kinder hat, und da hat sie nein gesagt.« Kalisha zuckte die Achseln. »Jedenfalls hab ich das immer schon gekonnt – ab und zu, nicht die ganze Zeit–, aber es ist nicht so, dass ich eine Superheldin wäre. Sonst würde ich hier nämlich schleunigst abhauen.«

»Im Ernst?«

»Ja, und hier kommt dein erster Test. Der erste von vielen. Ich denke an eine Zahl zwischen eins und fünfzig. Was ist das für eine Zahl?«

»Keine Ahnung.«

»Ehrlich? Schwindelst du nicht?«

»Überhaupt nicht.« Er ging zu der Tür an der anderen Seite des Raums. Draußen zielte der Junge auf einen Basketballkorb, während das Mädchen auf einem Trampolin hüpfte, ohne besondere Kunststücke zu machen; sie ließ sich nur auf den Hintern fallen und machte gelegentlich eine Drehung. Spaß schien ihnen das, was sie da taten, nicht zu machen; sie wirkten, als würden sie nur die Zeit totschlagen. »Sind das da draußen George und Iris?«

»Jep.« Kalisha gesellte sich zu ihm. »George Iles und Iris Stanhope. Die sind beide TK. TPs sind dünn gesäter. He, kluger Junge, ist das korrekt oder muss man dünner gesät sagen?«

»Man versteht beides, aber ich würde dünner gesät sagen. Dünn gesäter hört sich an, als ob man was Falsches gegessen hätte.«

Darüber dachte sie einige Sekunden nach, dann lachte sie und richtete wieder den Zeigefinger auf ihn. »Nicht schlecht!«