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»Können wir rausgehen?«

»Klar. Die Tür vom Spielplatz ist nie abgeschlossen. Allerdings wirst du bestimmt nicht lange draußen bleiben, hier in der Pampa gibt es massenhaft Moskitos. In dem Medizinschränkchen in deinem Bad müsste ein Fläschchen Deet sein. Das solltest du vorher immer nehmen, und schmier dich richtig damit ein! Maureen sagt, sobald die Libellen schlüpfen, wird es besser, aber bisher hab ich noch keine von denen gesehen.«

»Sind die nett?«

»George und Iris? Klar, ich glaube schon. Ist allerdings nicht so, dass wir beste Freunde wären, ich kenne George ja erst ’ne Woche. Iris ist… hm… vor zehn Tagen angekommen, glaube ich. Um den Dreh jedenfalls. Nach mir ist Nick am längsten hier. Nick Wilholm. Freu dich lieber nicht auf irgendwelche tieferen Beziehungen hier im Vorderbau, kluger Junge. Wie schon gesagt, ein ständiges Kommen und Gehen. Nur dass absolut keiner von Michelangelo daherschwätzt.«

»Wie lange bist du denn schon hier, Kalisha?«

»Fast einen Monat. Damit bin ich ein alter Hase.«

»Sagst du mir dann, was hier eigentlich läuft?« Er deutete mit dem Kinn auf die Kids draußen. »Oder sagen die es mir?«

»Wir werden dir sagen, was wir wissen und was die Pfleger und MTAs uns erzählen, aber ich hab den Eindruck, dass das meiste davon gelogen ist. George meint das auch. Iris wiederum…« Kalisha lachte. »Die ist wie Agent Mulder in Akte X. Sie will es gerne glauben.«

»Was will sie glauben?«

Bei dem Blick, den sie ihm zuwarf – zugleich weise und traurig – sah sie wieder eher wie eine Erwachsene als wie ein Kind aus. »Dass das hier nur ein kleiner Umweg auf der großen Straße des Lebens ist und dass am Ende alles gut wird, wie in Scooby-Doo.«

»Wo sind denn deine Eltern? Und wie bist du hierhergekommen?«

Das erwachsene Aussehen verschwand. »Da will ich jetzt nicht drüber reden.«

»Okay.« Vielleicht wollte er das auch nicht. Zumindest noch nicht.

»Und wenn du Nicky kennenlernst, mach dir nichts draus, wenn er ordentlich Randale macht. So lässt er eben Dampf ab, und manche von seinen Sprüchen sind…« Sie dachte nach. »Unterhaltsam.«

»Aha. Tust du mir einen Gefallen?«

»Klar, wenn ich kann.«

»Hör auf, kluger Junge zu mir zu sagen. Mein Name ist Luke. Nimm den, okay?«

»Mach ich.«

Er griff nach dem Türknauf, aber sie packte ihn am Handgelenk.

»Noch etwas, bevor wir rausgehen. Dreh dich um, Luke.«

Das tat er. Sie war zwei, drei Zentimeter größer als er. Ihm war nicht klar, dass sie ihn küssen würde, bis sie es tat, voll auf die Lippen. Sie steckte ihm sogar ein oder zwei Sekunden lang die Zunge in den Mund, was nicht nur ein Kribbeln hervorrief, sondern einen regelrechten Elektroschock, wie wenn er den Finger in eine Steckdose gesteckt hätte. Sein erster echter Kuss, und ein wilderschmusiger noch dazu. Rolf, dachte er (soweit er direkt danach überhaupt denken konnte), wäre total neidisch gewesen.

Mit zufriedener Miene löste Kalisha sich von ihm. »Das ist jetzt keine wahre Liebe oder so was, nicht dass du auf irgendwelche Ideen kommst. Ich weiß nicht mal, ob ich dir damit einen Gefallen tue, aber vielleicht schon. In meiner ersten Woche hier war ich nämlich in Quarantäne. Keine Spritze für Blitze.«

Sie deutete auf ein Poster, das neben dem Snackautomaten an der Wand hing. Es zeigte einen Jungen, der auf einem Stuhl saß und vergnügt auf einen Haufen farbige Punkte an einer weißen Wand zeigte. Daneben stand lächelnd ein Arzt (weißer Kittel, Stethoskop um den Hals) und legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. Über dem Foto stand SPRITZE FÜR BLITZE! Und darunter: JE SCHNELLER DU SIE SIEHST, DESTO SCHNELLER BIST DU WIEDER ZU HAUSE!

»Was soll das denn bedeuten?«

»Kümmre dich jetzt nicht darum. Meine Eltern waren totale Impfgegner, und zwei Tage nachdem ich hier im Vorderbau gelandet bin, hab ich die Windpocken bekommen. Husten, hohes Fieber, große, scheußliche rote Flecken, der ganze Scheiß. Inzwischen hab ich’s wohl überstanden, weil ich frei rumlaufen darf und sie wieder ihre Tests mit mir machen, aber vielleicht bin ich doch noch ein kleines bisschen ansteckend. Wenn du Glück hast, steckst du dich an und darfst ein paar Wochen Saft trinken und Fernsehen gucken, statt dass sie dich mit Spritzen und MRTs quälen.«

Das Mädchen draußen hatte die beiden erblickt und winkte. Kalisha winkte zurück, und bevor Luke etwas erwidern konnte, drückte sie die Tür auf. »Los, komm. Schau nicht mehr so verpeilt drein, und sag schön guten Tag!«

SPRITZE FÜR BLITZE

1

Draußen vor der Tür zum Aufenthaltsraum des Instituts legte Kalisha Luke den Arm um die Schultern und zog ihn zu sich heran. Er dachte, sie wollte ihn noch einmal küssen (eigentlich hoffte er das sogar), aber sie flüsterte ihm nur etwas ins Ohr. Ihre Lippen kitzelten so stark, dass er eine Gänsehaut bekam. »Du kannst reden, worüber du willst, bloß sag nichts über Maureen, okay? Wir denken zwar, dass die uns nicht ständig belauschen, sondern nur ab und zu, aber es ist besser, vorsichtig zu sein. Ich will nicht, dass sie Ärger kriegt.«

Maureen war die Haushälterin, okay, aber wer waren die? Luke war sich noch nie so verloren vorgekommen, nicht mal als Vierjähriger, als er in der Mall of America fünfzehn endlose Minuten lang von seiner Mutter getrennt gewesen war.

Inzwischen hatten ihn, wie Kalisha angekündigt hatte, die Moskitos entdeckt. Kleine schwarze, die in wahren Wolken seinen Kopf umkreisten.

Der Spielplatz war größtenteils mit feinem Kies bedeckt. Der Basketballbereich, wo der Junge namens George weiter auf den Korb zielte, war asphaltiert, und rund um das Trampolin war der Boden mit schaumstoffartigem Zeug belegt, damit man sich nicht wehtat, wenn man sich bei einem Sprung verschätzte und herunterfiel. Außerdem gab es ein Shuffleboard-Feld, einen Badmintonplatz, einen kleinen Seilgarten und bunte Zylinder, die kleine Kinder zu einem Tunnel zusammensetzen konnten – nicht dass irgendwelche Kinder da waren, die klein genug dafür gewesen wären. Dazu kamen Schaukeln, Wippen und eine Rutsche. Neben mehreren Picknicktischen stand ein langer, grüner Schrank, auf dem Schilder mit der Aufschrift SPIELE UND GERÄTE und SACHEN NACH GEBRAUCH BITTE ZURÜCKLEGEN angebracht waren.

Umgeben war der Spielplatz von einem mindestens drei Meter hohen Maschendrahtzaun. An zwei Ecken sah Luke Kameras, die alles im Blick behielten. Allerdings waren sie so verstaubt, dass sie wahrscheinlich eine ganze Weile nicht gereinigt wurden. Hinter dem Zaun war nichts als Wald, hauptsächlich Tannen. Nach der Dicke ihrer Stämme schätzte Luke sie auf ungefähr achtzig Jahre. Die Formel – sie stand in Bäume Nordamerikas, das er mit zehn an einem Sonntagnachmittag gelesen hatte – war ziemlich simpel. Es war nicht nötig, die Ringe zu zählen. Man schätzte lediglich den Umfang eines Baumstamms, teilte ihn durch Pi, um den Durchmesser zu bestimmen, und multiplizierte diesen dann mit dem durchschnittlichen Wachstumsfaktor der nordamerikanischen Tanne, der 4,5 betrug. Das war ebenso leicht wie die logische Schlussfolgerung: Die Bäume dort wurden schon sehr lange nicht mehr geschlagen, vielleicht seit mehreren Generationen nicht mehr. Was immer das Institut darstellte, es stand inmitten eines uralten Waldes, also inmitten von nirgendwo. Was den Spielplatz anging, war Lukes erster Gedanke: Wenn es einen Gefängnishof für Kinder im Alter von sechs bis sechzehn geben würde, dann sähe der exakt so aus.

Das Mädchen – Iris – winkte den beiden wieder zu. Mit hüpfendem Pferdeschwanz sprang sie zweimal auf dem Trampolin auf, dann flog sie zur Seite und landete breitbeinig und mit gebeugten Knien auf dem Schaumstoff. »Sha! Wen hast du denn da mitgebracht?«