Выбрать главу

»Das ist Luke Ellis«, sagte Kalisha. »Heute Morgen frisch eingetroffen.«

»Hi, Luke.« Iris kam angelaufen und hielt ihm die Hand hin. Sie war hager, ein Stück größer als Kalisha und hatte ein freundliches, hübsches Gesicht. Wangen und Stirn glänzten, was wohl an einer Mischung aus Schweiß und Mückenmittel lag. »Iris Stanhope.«

Während Luke ihr die Hand schüttelte, merkte er, dass die Moskitos – in Minnesota nannte man sie Schnaken, wie man sie hier nannte, wusste er nicht – sich bereits über ihn hermachten. »Dass ich hier bin, freut mich zwar nicht, aber ich freu mich, dich kennenzulernen.«

»Ich bin aus Abilene, das ist in Texas. Wo kommst du her?«

»Aus Minneapolis. Das ist in…«

»Ich weiß schon, wo das ist«, sagte Iris. »Im Land der hunderttausend Seen oder so ähnlich.«

»George!«, rief Kalisha. »Wo bleiben deine Manieren, junger Mann! Komm endlich her!«

»Moment noch. Das ist wichtig.« George stellte sich an die Linie, die den Rand des Spielfelds markierte, hielt den Basketball an die Brust und legte mit tiefer, angespannter Stimme los: »Okay, Leute, nach sieben hart umkämpften Spielen sind wir am Ende angelangt. Zweite Verlängerung, die Wizards haben einen Punkt weniger als die Celtics, und George Iles, gerade erst eingewechselt, hat die Chance, das Spiel von der Freiwurflinie aus zu gewinnen. Trifft er ein Mal, ziehen die Wizards gleich. Trifft er zwei Mal, schreibt er Geschichte. Wahrscheinlich kommt sein Foto in die Hall of Fame, vielleicht gewinnt er ein Tesla-Cabrio…«

»Das wäre dann eine Spezialanfertigung«, unterbrach ihn Luke. »Tesla produziert nämlich keine Cabrios, zumindest noch nicht.«

George achtete nicht auf ihn. »Niemand hätte je erwartet, dass Iles in eine solche Lage kommt, am wenigsten Iles selbst. Eine gespenstische Stille hat sich über die Capital One Arena gesenkt…«

»Und da furzt jemand!«, rief Iris. Sie schob die Zunge zwischen die Lippen und ließ ein langes, energisches Prusten ertönen. »Ein echter Trompetenstoß! Und was für ein Gestank!«

»Iles holt tief Luft… er lässt den Ball zweimal aufspringen, was sein Markenzeichen ist…«

»George quasselt nicht bloß wie ein Weltmeister, sondern hat auch eine extrem lebhafte Fantasie«, sagte Iris zu Luke. »Du wirst dich dran gewöhnen.«

George blickte zu den dreien herüber. »Iles wirft einen wütenden Blick auf einen einsamen Celtics-Fan, der ihn von der Tribüne her anpöbelt… Es ist ein Mädchen, das nicht bloß dämlich, sondern auch erstaunlich hässlich aussieht…«

Iris gab ein weiteres Prusten von sich.

»Jetzt blickt Iles zum Korb empor… Iles wirft…«

Ein Airball.

»Mann, George, das war echt furchtbar«, sagte Kalisha. »Stell jetzt entweder Gleichstand her, oder verlier das verdammte Spiel, damit wir miteinander reden können. Der Typ da hat nämlich keine Ahnung, was mit ihm passiert ist.«

»Als ob wir das wüssten«, sagte Iris.

George ging leicht in die Knie und warf. Der Ball rollte innen im Ring herum… überlegte es sich anders… und sprang wieder heraus.

»Sieg für die Celtics, Sieg für die Celtics!«, brüllte Iris. Sie sprang in die Höhe wie ein Cheerleader und schüttelte unsichtbare Pompons. »Jetzt komm endlich her, und schau dir den Neuen an.«

Während George auf sie zukam, wedelte er die Moskitos weg. Er war klein und stämmig, weshalb er sicher nur in seiner Fantasie jemals professionell Basketball spielen würde. Das blasse Blau seiner Augen erinnerte Luke an die Filme mit Paul Newman und Steve McQueen, die er sich mit Rolf auf TCM angeschaut hatte. Ihm wurde flau im Magen, wenn er daran dachte, wie sie zu zweit vor dem Fernseher gelegen und Popcorn gefuttert hatten.

»Yo, Alter. Wie heißt du?«

»Luke Ellis.«

»Ich bin George Iles, aber das hast du wahrscheinlich schon von den zwei Mädels hier gehört. Für die bin ich ein wahrer Gott.«

Kalisha hielt sich den Kopf, als würde er wehtun. Iris zeigte George den Finger.

»Ein Liebesgott.«

»Dann eher Adonis als Cupido«, sagte Luke, um ein bisschen darauf einzugehen. Jedenfalls versuchte er das. »Adonis ist der Gott von Schönheit und Begehren.«

»Wenn du meinst… Na, wie findest du es hier? Beschissen, oder?«

»Wo sind wir überhaupt? Kalisha nennt es das Institut, aber was hat das zu bedeuten?«

»Man könnte es auch Mrs. Sigsbys Heim für missratene Kinder mit übersinnlichen Fähigkeiten nennen«, sagt Iris und spuckte aus.

Das hier fühlte sich nicht einfach so an, als würde man sich mitten in einem Film vor den Fernseher setzen. Das hier war, als würde man erst in der dritten Staffel einer Serie einsteigen. Einer Serie mit komplizierter Handlung.

»Wer ist denn Mrs. Sigsby?«

»Die Oberzicke«, sagte George. »Du wirst sie bald kennenlernen, und ich geb dir den guten Rat, bloß nicht frech zu ihr zu sein. Das kann sie nämlich nicht ausstehen.«

»Bist du TP oder TK?«, fragte Iris.

»TK, nehme ich an.« In Wirklichkeit war es wesentlich mehr als eine bloße Annahme. »Manchmal bewegen sich Sachen, die in meiner Nähe sind, und da ich nicht an Poltergeister glaube, bin wahrscheinlich ich dran schuld. Aber das kann doch nicht ausreichen…« Er unterbrach sich. Das kann doch nicht ausreichen, um mich hierherzuschaffen, dachte er. Aber er war hier.

»TK-positiv?«, fragte George. Er ging zu einem von den Picknicktischen. Luke folgte ihm, die beiden Mädchen gingen hinterher. Luke konnte grob das Alter des Waldes berechnen, der sie umgab, er kannte die Namen von hundert unterschiedlichen Bakterien, er hätte seinen Gefährten allerhand über Hemingway, Faulkner und Voltaire erzählen können, aber jetzt verstand er nicht mal Bahnhof.

»Was soll das sein?«, fragte er.

»Pos oder positiv werden Kids wie ich und George genannt«, sagte Kalisha. »Von den MTAs und den Ärzten und allen anderen, meine ich. Wir sollen das eigentlich nicht wissen…«

»Aber wir wissen es trotzdem«, ergänzte Iris. »Das ist so was wie ein offenes Geheimnis. Wer TK- und TP-positiv ist, kann seine Fähigkeiten nutzen, wenn er will, wenigstens manchmal. Wir anderen können das nicht. Bei mir zum Beispiel bewegen sich Sachen bloß, wenn ich total sauer oder glücklich bin oder einfach erschrocken. Das heißt, es passiert unwillkürlich, wie wenn man niest. Ich bin also bloß Durchschnitt. Durchschnittliche TKs und TPs nennen sie Pinks.«

»Wieso?«, fragte Luke.

»Wenn man zum Durchschnitt gehört, ist auf den Papieren in deiner Akte ein kleiner pinker Punkt. Wir sollen eigentlich nicht sehen, was in unserer Akte ist, aber einmal habe ich trotzdem einen Blick reingeworfen. Manchmal sind sie eben achtlos.«

»Pass bloß auf, dass du nichts anstellst, Luke, sonst springen sie mächtig achtlos mit dir um«, sagte Kalisha.

»Mit Pinks macht man mehr Tests, und sie kriegen auch mehr Spritzen«, fuhr Iris fort. »Mich hat man in den Wassertank gesteckt. Das war beschissen, aber ich hab’s überlebt.«

»Was ist denn der…«

George ließ Luke keine Chance, seine Frage zu vollenden. »Also, ich bin TK-pos, in meiner Akte ist kein pinker Punkt. Null Pink für mich, Alter.«

»Hast du denn deine Akte gesehen?«, fragte Luke.

»Nicht nötig. Ich bin nämlich der totale Wahnsinn. Sieh her!«

George musste sich nicht konzentrieren wie ein indischer Heiliger, er stand einfach da, während sich etwas Außerordentliches ereignete. (Jedenfalls kam es Luke außerordentlich vor, obwohl keines der Mädchen besonders beeindruckt zu sein schien.) Die Mückenwolke, die den Kopf von George umkreiste, zog sich plötzlich ein Stück zurück und bildete eine Art Kometenschweif, als wäre sie von einer starken Windbö erfasst worden. Dabei wehte keinerlei Wind.