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»Genau! Das ist es!« Nicky starrte immer noch in die Kamera. »An einen Haufen Indianer, die so naiv sind, dass sie praktisch alles glauben! Die ihr Land für eine Handvoll Glasperlen und ein paar mit Flöhen gespickte Decken aufgeben, weil man ihnen weismacht, dass sie in den Himmel kommen, dort alle ihre toten Verwandten wiedersehen und für immer glücklich sind! Das sind wir, ein Haufen Indianer, die so naiv sind, dass sie alles glauben, was sich gut anhört. Was sich anhört, als gäb es ein verdammtes HAPPY END!«

Mit fliegenden Haaren wirbelte er zu den anderen herum. Seine Augen brannten, die Hände hatte er zur Faust geballt. Auf seinen Fingerknöcheln sah Luke verschorfte Wunden. Wahrscheinlich hatte Nicky nicht so erfolgreich ausgeteilt, wie er eingesteckt hatte – schließlich war er praktisch noch ein Kind–, aber offenbar hatte er es irgendjemand nach Kräften heimgezahlt.

»Meint ihr, als man Bobby Washington in den Hinterbau geschafft hat, hätte der irgendwelche Zweifel dran gehabt, dass es ihm dort blendend gehen würde? Oder Pete Littlejohn? Scheiße, die hatten doch gerade mal so viel Hirn wie ein Pfannkuchen.«

Er wandte sich wieder der verstaubten Überwachungskamera zu. Dass er kein anderes Objekt zur Verfügung hatte, um seinem Zorn Luft zu machen, ließ seinen Auftritt ein bisschen lächerlich wirken, aber Luke bewunderte ihn trotzdem. Nicky war nicht bereit, sich in seine Lage zu fügen.

»Hört gut zu, ihr Typen! Ihr könnt mich grün und blau prügeln, und ihr könnt mich in den Hinterbau schleppen, aber ich werde mich wehren, so gut ich kann! Nick Wilholm lässt sich keine Glasperlen und Decken andrehen!«

Schwer atmend, setzte er sich hin. Dann lächelte er, dass einem Grübchen, weiße Zähne und muntere Augen entgegenleuchteten. Der mürrische, finstere Ausdruck war wie weggeblasen. Luke fühlte sich zwar von Jungen nicht angezogen, aber als er dieses Lächeln sah, begriff er, weshalb Nicky von Kalisha und Iris wie der Leadsänger einer Boygroup angehimmelt wurde.

»Eigentlich sollte ich bei denen im Team sein, statt hier zu hocken wie in einem Hühnerstall. Ich könnte euch den Laden besser verkaufen als Sigsby und Hendricks und die ganzen anderen Typen. Ich strahle nämlich Überzeugung aus.«

»Auf jeden Fall«, sagte Luke. »Aber ich bin mir trotzdem nicht ganz sicher, worauf du rauswolltest.«

»Ja, irgendwie bist du auf den Holzweg geraten, Nicky«, sagte George.

Nicky verschränkte die Arme. »Also, Neuer, bevor ich dich im Schach nach Strich und Faden abziehe, fasse ich noch mal zusammen. Sie bringen uns hierher. Sie machen Tests an uns. Sie spritzen uns weiß der Teufel was und machen dann weitere Tests. Manche Kids kommen in den Wassertank, alle müssen durch diesen gruseligen Augentest, bei dem man dauernd meint, jeden Moment umzukippen. Wir haben Zimmer, die wie unsere Zimmer zu Hause aussehen, was wahrscheinlich ’ne Art Trost für unsere zarte Seele darstellen soll. Oder so.«

»Emotionale Akklimatisierung«, sagte Luke. »Das leuchtet durchaus ein.«

»Das Essen ist gut. Wir können sogar von einer Speisekarte auswählen, so überschaubar die auch ist. Die Zimmer sind nicht abgeschlossen; wenn du also nicht einschlafen kannst, kannst du dir in der Cafeteria nachts einen Snack besorgen. Da stehen Kekse, Nüsse, Äpfel und so Zeug. Oder du gehst in den Aufenthaltsraum. Die Automaten da funktionieren mit Wertmünzen, von denen ich allerdings keine einzige habe, weil die bloß brave kleine Mädchen und Jungen kriegen, und ich bin kein braver kleiner Junge. Wenn ich mal einen Pfadfinder in die Finger kriegen sollte, ramme ich ihn ungespitzt…«

»Stopp!«, sagte Kalisha scharf. »Hör auf mit diesem Scheiß.«

»Geht klar.« Nicky ließ sein charmantes Lächeln aufblitzen, dann wandte er sich wieder Luke zu. »Es gibt massenhaft Anreize, brav zu sein, um Münzen zu bekommen. Schließlich findet man in den Automaten ein fantastisches Angebot an Snacks und Erfrischungsgetränken.«

»Snickers«, sagte George träumerisch. »Kinder Bueno.«

»Ganz zu schweigen von Zigaretten, Alcopops und härterem Zeug.«

»Da hängt ein Schild, auf dem steht: BITTE TRINKT VERANTWORTUNGSBEWUSST«, sagte Iris. »Echt lustig, wenn Kinder, die gerade mal zehn sind, die Tasten für Boone’s Farm Blue Hawaiian und Mike’s Hard Lemonade drücken.«

»Das ist ein Scherz, oder?«, sagte Luke, aber Kalisha und George quittierten die Aussagen mit einem Nicken.

»Man kann sich ein bisschen antütern, aber stockbesoffen wird man nicht«, sagte Nicky. »So viele Münzen hat nämlich niemand.«

»Stimmt«, sagte Kalisha. »Aber manche Kids sorgen dafür, dass sie möglichst ständig angetütert sind.«

»Um einen bestimmten Pegel aufrechtzuerhalten? Zehn- und elfjährige Alkoholiker?« Luke konnte es immer noch nicht glauben. »Das meinst du jetzt aber wirklich nicht ernst.«

»Doch. Es gibt Kids, die alles machen, was man von ihnen verlangt, damit sie sich jeden Tag so Zeug ziehen können. Ich bin zwar noch nicht lange genug hier, dass ich das genauer studieren konnte, aber man hört so Geschichten von Leuten, die vorher da waren.«

»Außerdem geben manche sich alle Mühe, Kettenraucher zu werden«, sagte Iris.

So absurd das war, leuchtete es Luke auf irre Weise ein. Schließlich hatte der römische Satiriker Juvenal geschrieben, wenn man den Leuten Brot und Spiele gebe, wären sie zufrieden und würden keine Probleme machen. Dasselbe galt wahrscheinlich auch für Alkohol und Zigaretten, vor allem wenn man damit eingesperrte Kinder versorgte, die verängstigt und unglücklich waren.

»Hat das denn keine Auswirkungen auf die Tests?«, fragte er.

»Da wir nicht wissen, was für Tests es sind, ist das schwer zu sagen«, sagte George. »Vermutlich haben sie es bloß darauf angelegt, dass du die Blitze siehst und das Summen hörst.«

»Was für Blitze? Und was für ein Summen?«

»Das wirst du schon noch rauskriegen«, sagte George. »Ist übrigens nicht so schlimm. Da hinzukommen ist allerdings echt beschissen. Ich hasse es, Spritzen zu kriegen!«

»Drei Wochen, mehr oder weniger«, sagte Nicky. »So lange bleiben die meisten Kids im Vorderbau. Jedenfalls meint Sha das, und die ist am längsten hier. Dann kommen wir in den Hinterbau. Und danach – so behaupten sie wenigstens – findet eine Art Gehirnwäsche statt, bei der unsere Erinnerungen an den Ort hier irgendwie ausgelöscht werden.« Er hob die Arme in den Himmel und spreizte die Finger. »Und dann, liebe Kinderlein, kommen wir in den Himmel. Von allen Sünden rein, bloß dass wir vielleicht Kette rauchen! Halleluja!«

»Er meint, wir kommen heim zu unseren Eltern«, sagte Iris leise.

»Wo man uns mit offenen Armen empfangen wird«, sagte Nicky. »Ohne Fragen zu stellen. Da heißt’s dann einfach: Willkommen daheim, fahren wir doch gleich mal rüber zu Chuck E. Cheese, um zu feiern! Findest du, das hört sich realistisch an, Ellis?«

Dem war nicht so.

»Aber unsere Eltern sind doch am Leben, oder?« Luke wusste nicht, wie seine Stimme in den Ohren der anderen klang, aber für ihn hörte sie sich sehr dünn an.

Niemand gab eine Antwort, alle sahen ihn nur an. Was eigentlich Antwort genug war.

3

An der Tür von Mrs. Sigsbys Büro klopfte es. Sie bat den Besucher herein, ohne den Blick von ihrem Computerbildschirm abzuwenden. Der Mann, der eintrat, war beinahe so groß wie Dr. Hendricks, aber zehn Jahre jünger und wesentlich besser in Form – breitschultrig und muskulös. Sein kahl rasierter Schädel glänzte. Er trug Jeans und ein legeres blaues Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren, um seine bewundernswerten Bizepse zu präsentieren. An einer Hüfte trug er ein Holster, aus dem ein kurzer Metallstab ragte.

»Die Leute von Team Ruby Red sind da. Falls Sie mit ihnen über die Operation Ellis sprechen wollen.«