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»Gibt es da irgendetwas Dringendes oder Außergewöhnliches, Trevor?«

»Nein, Ma’am, eigentlich nicht. Falls ich gerade störe, kann ich später wiederkommen.«

»Nein, ist schon in Ordnung. Unsere Insassen versorgen den neuen Jungen gerade mit ein paar Hintergrundinformationen. Kommen Sie doch her, und sehen Sie sich’s an. Die Mischung aus Gerüchten und Beobachtungen ist recht amüsant. Wie eine Szene aus Herr der Fliegen.«

Trevor Stackhouse kam um den Schreibtisch herum. Er sah Wilholm – einen nervigen kleinen Scheißer, wie er im Buche stand – an einem Schachbrett sitzen, auf dem alle Figuren spielbereit aufgebaut waren. Der Neuankömmling saß ihm gegenüber. Die Mädchen standen daneben und richteten ihre Aufmerksamkeit wie üblich hauptsächlich auf Wilholm – gut aussehend, finster dreinblickend, rebellisch, ein moderner James Dean. Bald würde man ihn los sein; Stackhouse konnte es kaum erwarten, dass Hendricks mit ihm fertig war.

»Was meint ihr, wie viele Leute hier arbeiten?«, fragte der neue Junge.

Iris und Kalisha (auch als Windpockentussi bekannt) sahen sich an. Die Antwort kam von Iris. »Fünfzig? So viele sind es mindestens, glaube ich. Da sind die Ärzte… die MTAs und Pfleger… das Personal in der Cafeteria… äh…«

»Zwei oder drei Hausmeister«, sagte Wilholm. »Und die Haushälterinnen. Momentan ist bloß Maureen da, weil wir gerade mal zu fünft sind, aber wenn es mehr werden, kommen ein, zwei Haushälterinnen dazu. Vielleicht arbeiten die sonst im Hinterbau, aber da bin ich mir nicht sicher.«

»Wie können die das bei so vielen Leuten denn geheim halten?«, fragte Ellis. »Wo parken denn zum Beispiel die ganzen Autos?«

»Interessant«, sagte Stackhouse. »Ich glaube nicht, dass sich das jemand schon einmal gefragt hat.«

Mrs. Sigsby nickte. »Der Junge da ist ausgesprochen klug, und das ist nicht nur angelesen. Jetzt aber pst! Ich will zuhören.«

»… muss bleiben«, sagte Luke gerade. »Erkennt ihr die Logik? Wie ein Kampfeinsatz beim Militär. Was bedeuten würde, dass das hier eine Regierungseinrichtung ist. Wie eine von den Black Sites, wo man Terroristen hinschafft, um sie zu verhören.«

»Samt dem guten, alten Waterboarding«, sagte Wilholm. »Ich hab zwar nicht gehört, dass man das hier schon jemand angetan hätte, aber zutrauen würde ich es denen schon.«

»Die haben ja den Wassertank«, sagte Iris. »Das ist ihr Waterboarding. Sie ziehen dir eine Kappe über den Kopf, tauchen dich unter und machen sich Notizen. Ist eigentlich sogar besser als die Spritzen.« Sie machte eine kleine Pause. »Wenigstens war das für mich so.«

»Bestimmt wechseln sie die Angestellten gruppenweise aus«, sagte Ellis. Mrs. Sigsby hatte den Eindruck, dass er mehr mit sich selbst als mit den anderen sprach. Das tut er sicher oft, dachte sie. »Anders könnte das nicht klappen.«

Stackhouse nickte. »Gute Schlussfolgerungen. Verdammt gute. Wie alt ist der, zwölf?«

»Lesen Sie den Bericht, Trevor.« Sie drückte eine Taste auf ihrem Computer, worauf der Bildschirmschoner auftauchte: ein Foto ihrer Zwillingstöchter in ihrem doppelten Kinderwagen, viele Jahre, bevor die beiden Brüste, ein freches Mundwerk und üble Boyfriends bekommen hatten. Im Falle von Judy außerdem eine üble Drogensucht. »Hat die Nachbesprechung mit Ruby Red schon stattgefunden?«

»Durch mich persönlich. Wenn die Polizei den Computer des Jungen untersucht, wird man feststellen, dass er sich Berichte über Kinder angesehen hat, die ihre Eltern umgebracht haben. Nicht oft, aber doch zwei- oder dreimal.«

»Der Standardablauf also.«

»Ja, Ma’am. Bewährtes soll man bekanntlich beibehalten.«

Stackhouse bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln, das sie beinahe so charmant fand wie das von Nicky Wilholm, wenn der es auf volle Wattzahl stellte. Aber nur beinahe. Nicky war ein echter Herzensbrecher. Jedenfalls jetzt noch.

»Wollen Sie mit dem Team sprechen oder sich nur den Bericht anschauen?«, fragte Stackhouse. »Den schreibt Denny Williams, also sollte er einigermaßen lesbar sein.«

»Wenn alles glattgegangen ist, reicht mir der Bericht. Ich lasse ihn mir von Rosalind vorlegen.«

»Gut. Was ist mit Alvorson? Hat die in letzter Zeit irgendwelche neuen Informationen geliefert?«

»Meinen Sie, ob Wilholm und Kalisha schon miteinander rumknutschen?« Sigsby hob eine Augenbraue. »Ist das für Ihren Auftrag als Security-Chef relevant, Trevor?«

»Es ist mir scheißegal, ob die beiden knutschen. Ich würde mich sogar freuen, wenn sie aufs Ganze gehen und ihre Unschuld verlieren, solange sie die Chance dazu haben. Falls sie überhaupt noch jungfräulich sind. Aber von Zeit zu Zeit schnappt Alvorson doch was auf, was relevant für meinen Auftrag ist. Wie damals bei ihrer Unterhaltung mit dem kleinen Washington.«

Maureen Alvorson, die Haushälterin, die scheinbar mit den jungen Insassen des Instituts sympathisierte, war in Wirklichkeit eine Schnüfflerin. (Angesichts der banalen Gesprächsfetzen, mit denen sie ankam, hielt Mrs. Sigsby den Begriff Spitzel nicht für angemessen.) Darauf war weder Kalisha noch irgendjemand von den anderen TPs gekommen, weil Maureen es ausgesprochen gut verstand, ihren kleinen Zusatzjob weit unter der Oberfläche zu halten.

Ihr besonderer Wert bestand darin, dass sie den Insassen geschickt weismachte, bestimmte Bereiche im Institut – wie die südliche Ecke der Cafeteria und der Platz neben den Automaten – würden nicht von der Audioüberwachung erfasst. Das waren die Orte, wo Alvorson die Geheimnisse der Kids erfuhr. In den meisten Fällen handelte es sich um Belanglosigkeiten, aber manchmal fand man eine Perle im Dreck. Zum Beispiel hatte der kleine Washington Maureen anvertraut, dass er an Selbstmord denke.

»In letzter Zeit nicht«, sagte Sigsby. »Ich werde Sie informieren, falls sie mir etwas mitteilt, was meiner Meinung nach von Interesse für Sie sein könnte, Trevor.«

»Okay. Hab bloß gefragt.«

»Schon klar. Gehen Sie jetzt bitte. Ich habe viel zu tun.«

4

»Schluss mit dem Scheiß«, sagte Nicky, setzte sich wieder auf die Bank und strich sich endlich die Haare aus dem Gesicht. »Bald kommt das Dingdong, und nach dem Essen hab ich einen Augentest, bei dem ich auf die weiße Wand starren muss. Zeig endlich, was du draufhast, Ellis. Mach einen Zug.«

Luke hatte noch nie weniger Lust gehabt, Schach zu spielen. Er hatte zahllose weitere Fragen – vor allem darüber, was es mit den Spritzen und den Blitzen auf sich hatte–, aber vielleicht war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Schließlich gab es ein Phänomen namens Informationsüberlastung. Er zog seinen Königsbauern zwei Felder vor. Nicky tat dasselbe. Luke reagierte, indem er seine Dame diagonal vier Felder nach rechts zog, um den Bauern zu bedrohen. Nach kurzem Zögern deckte Nicky den mit einem Springer. Luke zog seinen weißen Läufer vor, und als Nicky die Dame daraufhin mit dem anderen Springer angriff, war die Sache gelaufen. Luke schlug den Bauern neben dem König, und das war es.

Nicky starrte stirnrunzelnd auf das Brett. »Schachmatt? In vier Zügen? Soll das ein Witz sein?«

Luke zuckte die Achseln. »Das nennt man Schäfermatt, und es klappt nur, wenn man mit Weiß spielt. Beim nächsten Mal bist du vorbereitet und kannst kontern. Am besten, du ziehst den Damenbauern zwei Felder vor oder den Königsbauern eines.«

»Und wenn ich das tue, kannst du mich dann trotzdem schlagen?«

»Eventuell.« Eine diplomatische Antwort. Die ehrliche hätte gelautet: Natürlich.

»Heilige Scheiße.« Nicky studierte immer noch das Brett. »Das ist verdammt clever. Wer hat dir das beigebracht?«

»Ich hab ein paar Bücher gelesen.«

Nicky hob den Kopf, schien Luke zum ersten Mal richtig zu sehen und stellte dieselbe Frage wie Kalisha vor einer Weile: »Wie gescheit bist du eigentlich?«