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»Gescheit genug, dich zu schlagen«, sagte Iris, was Luke eine Antwort ersparte.

In diesem Augenblick ertönte ein leiser, aus zwei Tönen bestehender Glockenton – das Dingdong.

»Gehen wir zum Essen«, sagte Kalisha. »Ich bin furchtbar hungrig. Komm, Luke. Der Verlierer muss die Figuren aufräumen.«

Nicky richtete die Fingerpistole auf sie und machte mit den Lippen lautlos peng, grinste dabei jedoch. Luke stand auf und folgte den Mädchen. An der Tür zum Aufenthaltsraum holte George ihn ein und fasste ihn am Arm. Luke wusste von seiner soziologischen Lektüre her (und aus persönlicher Erfahrung), dass sich in einer Gruppe von Kindern normalerweise leicht erkennbare Rollen bildeten. Wenn Nicky Wilholm der Rebell in der Gruppe war, dann war George Iles der Klassenclown. Allerdings sah er jetzt todernst drein. Er sprach leise und schnell.

»Nicky ist cool, ich mag ihn, und die Mädchen sind verrückt nach ihm, wahrscheinlich wirst du ihn auch mögen, und das ist okay, aber nimm ihn dir bloß nicht als Vorbild. Er akzeptiert nicht, dass wir hier festsitzen, aber so ist es eben, also überleg dir gut, wann du dich querlegst. Die Blitze zum Beispiel. Wenn du sie siehst, dann sag das auch. Wenn du sie nicht siehst, ebenfalls. Lüg nicht. Die merken das nämlich.«

Nicky gesellte sich zu den beiden. »Worüber redest du denn da, Georgie Boy?«

»Er wollte wissen, wo die kleinen Kinder herkommen«, sagte Luke. »Ich hab gemeint, da soll er dich fragen.«

»Ach du Schande, noch so ein Komiker. Da haben wir gerade drauf gewartet.« Nicky packte Luke am Hals und tat so, als wollte er ihn erwürgen. Luke hoffte, dass er damit Sympathie bezeugte. Vielleicht sogar Respekt. »Komm, setzen wir uns an den Tisch.«

5

Was seine neuen Freunde als Cafeteria bezeichneten, war ein Teil des Aufenthaltsraums gegenüber dem großen Fernseher. Luke hätte gern einen Blick auf die Warenautomaten geworfen, aber die anderen gingen so schnell daran vorbei, dass er keine Chance dazu hatte. Immerhin fiel ihm das Schild ins Auge, das Iris erwähnt hatte: BITTE TRINKT VERANTWORTUNGSBEWUSST. Also hatten sie ihn wohl doch nicht auf die Schippe genommen, was die Verfügbarkeit von Alkohol anging.

Wir sind hier nicht in Kansas und auch nicht auf der Vergnügungsinsel, dachte er, sondern im Wunderland. Jemand ist mitten in der Nacht in mein Zimmer gekommen und hat mich in den Kaninchenbau geschubst.

Der Aufenthaltsraum war nicht so groß wie die Cafeteria in seiner Schule, aber doch beinahe. Weil sie nur zu fünft zum Essen kamen, wirkte er noch größer. Die meisten Tische waren für vier Stühle gedacht, doch in der Mitte standen ein paar größere. Einen davon hatte man für fünf Personen gedeckt. Eine Frau in einem rosa Kittel und dazu passenden Hosen kam herbei und füllte allen die Wassergläser. Wie Maureen trug sie ein Namensschildchen. Auf ihrem stand NORMA.

»Na, wie geht es euch, meine Schäfchen?«, sagte sie.

»Ach, wir haben ein dickes Fell«, sagte George vergnügt. »Und wie geht’s Ihnen?«

»Bestens«, sagte Norma.

»Sie haben nicht zufällig ’ne Karte mit Du kommst aus dem Gefängnis frei dabei?«

Norma warf George ein besänftigendes Lächeln zu und verschwand durch die Pendeltür, die vermutlich in die Küche führte.

»Wieso mache ich mir überhaupt die Mühe?«, sagte George. »Hier drin sind meine besten Sprüche für die Katz. Für die Katz, sag ich dir!«

Er griff nach den in der Tischmitte aufgestapelten Speisekarten und verteilte sie ringsum. Ganz oben stand das Tagesdatum. Darunter aufgeführt waren die VORSPEISEN (Chicken Wings oder Tomatencremesuppe), die HAUPTGERICHTE (Bison-Burger oder Chop Suey) und die DESSERTS (Apple Pie mit Eiscreme oder etwas namens Zauberkuchen). Aufgeführt waren ferner etwa ein Dutzend Softdrinks.

»Man kann auch Milch bestellen, aber das schreiben sie nicht auf die Speisekarte«, sagte Kalisha. »Die meisten Kids wollen keine, außer sie essen Cornflakes zum Frühstück.«

»Ist das Essen wirklich gut?«, fragte Luke. Die prosaische Natur dieser Frage – so als ob das hier ein Cluburlaub mit Vollpension wäre – weckte in ihm wieder ein Gefühl von Unwirklichkeit und Orientierungslosigkeit.

»Klar«, sagte Iris. »Manchmal wiegen sie uns. Ich hab zwei Kilo zugelegt.«

»Sie mästen uns vor dem Schlachtfest«, sagte Nicky. »Wie Hänsel und Gretel.«

»Am Freitagabend und am Sonntagmittag gibt es ein Büfett«, sagte Kalisha. »All you can eat.«

»Eben, wie Hänsel und Gretel, verdammt noch mal«, wiederholte Nicky. Er drehte sich halb um und blickte zu der Überwachungskamera in der Ecke hinauf. »Kommen Sie wieder her, Norma. Ich glaube, wir sind so weit.«

Sofort tauchte Norma wieder auf, was Lukes Gefühl der Unwirklichkeit noch verstärkte. Als seine Chicken Wings und sein Chop Suey kamen, griff er trotzdem herzhaft zu. Er befand sich an einem seltsamen Ort, er hatte Angst um sich und fragte sich voll Entsetzen, was mit seinen Eltern geschehen war, aber außerdem war er erst zwölf.

Ein heranwachsender Junge.

6

Offenbar hatten sie alles beobachtet, wer immer sie waren, denn kaum hatte Luke sich den letzten Bissen seines Zauberkuchens in den Mund geschoben, tauchte neben ihm eine Frau auf. Sie trug eine von diesen rosa Quasiuniformen; auf ihrem Namensschildchen stand GLADYS. »Luke? Komm mit, bitte.«

Er warf einen Blick auf die anderen vier. Kalisha und Iris senkten den Kopf. Nicky sah Gladys an. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ein mattes Lächeln aufgesetzt. »Wie wär’s, wenn Sie später wiederkommen, Süße? So um Weihnachten herum. Dann kitzle ich Sie unter dem Mistelzweig.«

Sie achtete nicht auf ihn. »Luke? Bitte!«

George war der Einzige, der ihn direkt anblickte, und bei dem Ausdruck auf seinem Gesicht dachte Luke an das, was er an der Tür gesagt hatte: Überleg dir gut, wann du dich querlegst. Er stand auf. »Bis später, Leute. Hoffentlich.«

Kalisha formte mit dem Mund die Worte Spritze für Blitze.

Gladys war klein und hübsch, aber Luke hatte natürlich keine Ahnung, ob sie womöglich einen Schwarzgurt in Judo besaß und ihn locker über die Schulter werfen konnte, wenn er ihr irgendwelche Probleme bereitete. Selbst wenn nicht, beobachteten sie alles, weshalb zweifellos augenblicklich eine Verstärkung auftauchen würde. Außerdem war da noch etwas anderes, was einen starken Einfluss auf ihn ausübte. Seine Eltern hatten ihm beigebracht, höflich zu sein und Erwachsenen zu gehorchen. Selbst in der momentanen Situation war die Angewohnheit schwer zu durchbrechen.

Gladys führte ihn an der Fensterreihe vorbei, von der Nicky gesprochen hatte. Als Luke hinausblickte, konnte er tatsächlich ein weiteres Gebäude sehen. Durch die Bäume hindurch war es kaum zu erkennen, aber es stand da, keine Frage. Der Hinterbau.

Bevor er den Aufenthaltsraum verließ, warf er einen Blick zurück, weil er auf eine beruhigende Geste hoffte, ein Winken zum Beispiel. Selbst ein Lächeln von Kalisha hätte ihm ausgereicht. Er sah jedoch kein Winken, und niemand lächelte. Alle sahen ihn mit demselben Ausdruck an wie auf dem Spielplatz, als er gefragt hatte, ob ihre Eltern noch am Leben seien. Das wussten sie bekanntlich nicht, jedenfalls nicht mit Gewissheit, aber sie wussten, wohin er jetzt geführt wurde. Was immer ihn erwartete, sie hatten es bereits durchgemacht.

7

»Meine Güte, was für ein wunderschöner Tag, was?«, sagte Gladys, während sie mit ihm durch den nüchternen Flur an seinem Zimmer vorüberging. Am Ende führte der Flur in einen anderen Gebäudetrakt – weitere Türen, weitere Zimmer–, aber sie bogen nach links in eine Aufzugnische ab.