Erst jetzt sah Luke, dass Tony einen kleinen blauen Fleck am Kinn und eine kleine Wunde am linken Unterkiefer hatte. Er dachte an den Bluterguss auf Nicky Wilholms Gesicht und hätte gern den Mumm gehabt, sich ebenfalls zu wehren, doch den hatte er nicht. Genauer gesagt hatte er keine Ahnung, wie man sich wehrte. Wenn er es versucht hätte, dann hätte ihn Tony wahrscheinlich nach Strich und Faden verprügelt.
»Bist du bereit, dich auf den Stuhl zu setzen?«
Luke setzte sich auf den Stuhl.
»Wirst du dich benehmen, oder muss ich dich festschnallen?«
»Ich benehme mich.«
Was er tat, und Tony hatte recht. Der Stich ins Ohrläppchen war nicht so schlimm wie die Ohrfeige, entweder weil er darauf vorbereitet war oder weil sich der Vorgang eher wie eine medizinische Prozedur als ein Angriff anfühlte. Als das erledigt war, trat Tony zu einem Sterilisator und holte eine Injektionsspritze heraus. »Runde zwei, mein Freund.«
»Was ist da drin?«, fragte Luke.
»Geht dich nichts an.«
»Wenn es mir eingetrichtert werden soll, geht es mich durchaus was an.«
Tony seufzte. »Festschnallen oder nicht? Du hast die Wahl.«
Luke dachte wieder daran, was George ihm geraten hatte. »Nicht festschnallen.«
»Braver Junge. Bloß ein kleiner Stich und fertig.«
Es war mehr als ein kleiner Stich. Nicht dass es höllisch wehgetan hatte, aber es stach ziemlich stark. Lukes Arm wurde heiß bis hinunter zum Handgelenk, als würde dort ein Fieber toben. Dann fühlte sich alles wieder normal an.
Tony klebte ihm ein durchsichtiges Pflaster auf die Haut und drehte den Stuhl dann so, dass Luke auf die weiße Wand blickte. »Mach jetzt die Augen zu.«
Luke schloss die Augen.
»Hörst du etwas?«
»Was denn?«
»Stell keine Fragen und beantworte bloß meine. Also, hörst du etwas?«
»Wenn Sie reden, kann ich bestimmt nichts hören.«
Tony hielt den Mund. Luke lauschte.
»Draußen im Flur ist jemand vorbeigegangen. Und jemand andres hat gelacht. Ich glaube, das war Gladys.«
»Sonst nichts?«
»Nein.«
»Okay, dann ist ja alles in Ordnung. Zähl jetzt auf zwanzig, bevor du die Augen öffnest.«
Luke zählte und machte dann die Augen auf.
»Was siehst du?«
»Die Wand.«
»Sonst nichts?«
Offenbar redete Tony von den Blitzen. Wenn du sie siehst, hatte George gesagt, dann sag das auch. Wenn du sie nicht siehst, ebenfalls. Lüg nicht. Die merken das nämlich.
»Sonst nichts.«
»Ganz sicher?«
»Ja.«
Tony schlug ihm so heftig auf den Rücken, dass er zusammenzuckte. »Okay, mein Freund, dann sind wir hier fertig. Ich geb dir noch ein Coolpack für dein Ohr. Und wünsche dir einen wunderschönen Tag.«
8
Als Tony ihn aus Raum B31 begleitete, wartete Gladys schon auf ihn. Sie hatte ihr fröhliches, professionelles Hostessenlächeln aufgesetzt. »Na, wie hast du dich gehalten, Luke?«
Die Antwort gab Tony für ihn. »Ganz prima. Braver Junge.«
»Das ist ja auch unsere Spezialität«, trällerte Gladys. »Einen schönen Tag noch, Tony!«
»Den wünsche ich dir auch, Glad.«
Vergnügt plappernd, führte sie Luke zum Aufzug zurück. Er hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Sein Arm tat nur ein bisschen weh, aber er drückte das Coolpack an sein linkes Ohr, das noch pochte. Die Ohrfeige war richtig schlimm gewesen. Aus vielerlei Gründen.
Gladys begleitete ihn durch den industriegrünen Flur, vorbei an dem Poster, unter dem Kalisha gesessen hatte, und an dem mit dem Slogan EIN TAG WIE IM PARADIES, bis sie schließlich zu dem Zimmer kamen, das wie sein Zimmer zu Hause aussah, es jedoch nicht war.
»Freizeit!«, rief sie, als würde sie ihm einen wertvollen Preis überreichen. Die Aussicht, allein zu sein, kam ihm momentan tatsächlich wie eine Art Preis vor. »Er hat dir eine Spritze gegeben, stimmt’s?«
»Ja.«
»Wenn dein Arm wehtut oder wenn du dich schwach fühlst, sag es mir oder einer anderen Pflegerin, okay?«
»Okay.«
Er öffnete die Tür, aber bevor er das Zimmer betreten konnte, packte Gladys ihn an den Schultern und drehte ihn herum. Sie trug weiterhin ihr Hostessenlächeln auf dem Gesicht, aber ihre Finger pressten sich stählern in sein Fleisch. Nicht so fest, dass es wehtat, aber fest genug, ihn wissen zu lassen, dass es wehtun könnte.
»Münzen gibt es leider nicht«, sagte sie. »Das hab ich mit Tony gar nicht erst besprechen müssen. Der blaue Fleck auf deiner Wange sagt mir alles, was ich wissen muss.«
Ich will deine beschissenen Münzen nicht, hätte Luke gern gesagt, aber er hielt den Mund. Er hatte keine Angst davor, geschlagen zu werden; er hatte Angst, dass der Klang der eigenen Stimme – schwach, wackelig, verwirrt, die Stimme eines Sechsjährigen – ihn dazu bringen würde, vor der Frau in Tränen auszubrechen.
»Ich will dir einen Rat geben«, sagte sie. Jetzt lächelte sie nicht mehr. »Du musst dir klarmachen, dass du hier bist, um zu dienen, Luke. Das bedeutet, dass du schnell erwachsen werden musst. Es bedeutet, realistisch zu sein. Mit dir werden hier bestimmte Dinge geschehen. Manche werden nicht besonders schön sein. Dann kannst du ein guter Kumpel sein und Münzen bekommen, oder du bist ein schlechter Kumpel und kriegst keine. Geschehen werden die Dinge sowieso – wie solltest du dich also entscheiden? Eigentlich dürfte das keine große Frage sein.«
Luke erwiderte nichts. Trotzdem kehrte das Lächeln wieder, das Hostessenlächeln, als wollte sie sagen: Aber ja, Sir, ich führe Sie sogleich zu Ihrem Tisch!
»Bevor der Sommer vorüber ist, bist du wieder zu Hause, und dann wird es so sein, als ob nichts von alledem geschehen wäre. Falls du dich überhaupt daran erinnerst, wird es wie ein Traum sein. Aber solange es noch kein Traum ist, solltest du dir deinen Aufenthalt hier möglichst angenehm gestalten.« Sie lockerte ihren Griff und schob ihn sanft von sich weg. »Du solltest dich jetzt ein bisschen ausruhen, glaube ich. Leg dich hin. Hast du die Blitze gesehen?«
»Nein.«
»Das wirst du schon noch.«
Behutsam schloss sie die Tür. Schlafwandlerisch ging Luke durchs Zimmer zu dem Bett, das nicht seines war. Er legte sich hin, ließ den Kopf auf das Kissen sinken, das ebenfalls nicht seines war, und starrte an die leere Wand ohne Fenster. Blitze sah er da ebenfalls nicht, was immer das sein mochte. Er dachte: Ich will meine Mama bei mir haben. Ach Gott, ich will so sehr, dass meine Mama bei mir ist.
Das gab ihm den Rest. Er ließ das Coolpack fallen, legte die Hände über die Augen und heulte los. Ob sie ihn wohl beobachteten? Oder sein Schluchzen hörten? Das war ihm egal. Es kümmerte ihn nicht mehr. Als er einschlief, weinte er immer noch.
9
Beim Aufwachen fühlte er sich besser – irgendwie gereinigt. Er sah zwei Gegenstände, die man offenbar in sein Zimmer gebracht hatte, als er beim Mittagessen gewesen war und anschließend seine wunderbaren neuen Freunde Gladys und Tony kennengelernt hatte. Auf dem Schreibtisch stand ein Laptop. Es war ein Mac, genau wie sein eigener, aber ein älteres Modell. Die andere Ergänzung war der kleine Fernseher auf einem Gestell in der Ecke.
Zuerst ging er zu dem Computer, schaltete ihn ein, und als er die vertraute Startmelodie hörte, spürte er wieder wie einen scharfen Stich sein Heimweh. Anstatt zur Eingabe eines Passworts aufgefordert zu werden, sah er einen blauen Bildschirm mit dem Hinweis: HALT EINE WERTMÜNZE VOR DIE KAMERA. Luke hackte ein paarmal auf die Eingabetaste ein, obwohl ihm klar war, dass das nichts nützen würde.