»Scheißteil!«
Dann jedoch musste er lachen, obwohl alles so grässlich und surreal war. Es war ein heiseres und kurzes, aber echtes Lachen. Hatte er bei der Vorstellung, dass die anderen Kids nach Münzen gierten, um sich am Automaten Alcopops oder Zigaretten zu ziehen, nicht ein gewisses Gefühl der Überlegenheit – wenn nicht gar Verachtung – empfunden? Klar hatte er das. Hatte er nicht gedacht, dass er sich nie so verhalten würde? Klar hatte er das. Wenn Luke an Kids dachte, die tranken und rauchten (was er nur selten tat; er musste über wichtigere Dinge nachdenken), so kamen ihm Loser mit Gothic-Klamotten in den Sinn, die auf Pantera standen und misslungene Teufelshörner auf ihre Jeansjacke malten, Loser, die so dämlich waren, dass sie es für einen rebellischen Akt hielten, sich an etwas zu ketten, was süchtig machte. Er konnte sich nicht vorstellen, sich so zu verhalten, aber da saß er, starrte auf den leeren blauen Laptopmonitor und hämmerte auf die Eingabetaste ein wie eine in einer Skinner-Box sitzende Ratte, die wie wild den Reaktionshebel betätigte, um an ein bisschen Futter oder ein paar Körnchen Kokain zu kommen.
Er klappte den Laptop zu und holte sich die Fernbedienung, die auf dem Fernseher lag. Eigentlich hätte er erwartet, wieder einen blauen Bildschirm und den Hinweis zu sehen, dass er mindestens eine Münze für den Betrieb brauchte, aber stattdessen sah er Steve Harvey, der David Hasselhoff nach den Dingen fragte, die er in seinem Leben unbedingt noch tun wolle. Das Publikum bog sich vor Lachen über die lustigen Antworten, die der Hoff von sich gab.
Als Luke die entsprechende Taste auf der Fernbedienung drückte, erschien ein Menü, das dem zu Hause ähnelte, aber ebenso wie das Zimmer und der Laptop nicht ganz identisch war. Es gab zwar eine große Auswahl an Filmen und Sportsendern, aber keinerlei Networks und Nachrichtensender. Luke schaltete den Fernseher aus, legte die Fernbedienung wieder darauf und sah sich um.
Neben der Tür zum Flur gab es zwei weitere Türen. Hinter der einen verbarg sich ein Kleiderschrank mit Jeans, T-Shirts (man hatte sich nicht die Mühe gemacht, exakte Kopien von denen zu besorgen, die er zu Hause hatte, was ihn irgendwie erleichterte), einige Hemden, zwei Paar Sneakers und ein Paar Schlappen. Festere Schuhe waren nicht vorhanden.
Die andere Tür führte in ein kleines, blitzsauberes Badezimmer. Auf dem Waschbecken lagen zwei noch verpackte Zahnbürsten neben einer neuen Tube Crest-Zahnpasta. In dem gut bestückten Medizinschränkchen fand Luke Mundspülung, ein Döschen Kinder-Paracetamol mit lediglich vier Tabletten, Deo, Mückenmittel, Heftpflaster und mehrere andere Sachen, die mehr oder weniger nützlich waren. Das Einzige, was man als wenigstens annähernd gefährlich bezeichnen konnte, war der Nagelknipser.
Er klappte das Medizinschränkchen zu und betrachtete sich im Spiegel. Seine Haare standen in alle Richtungen ab, unter den Augen waren dunkle Ringe (Rolf hätte sie als Wichsringe bezeichnet). Er sah zugleich älter und jünger aus, was merkwürdig war. Als er sein zartes rechtes Ohrläppchen in Augenschein nahm, sah er die winzige Metallscheibe, die in die leicht gerötete Haut eingebettet war. Er zweifelte nicht daran, dass sich irgendwo auf Ebene B – oder C oder D – ein Computer samt einem Techniker befand, der jetzt jede seiner Bewegungen verfolgen konnte. Vielleicht tat er das sogar genau in diesem Augenblick. Lucas David Ellis, der vorgehabt hatte, sich sowohl am MIT als auch am Emerson College zu immatrikulieren, war zu einem blinkenden Pünktchen auf einem Computerbildschirm reduziert worden.
Luke ging in sein Zimmer zurück (in das Zimmer, schärfte er sich ein, es ist das Zimmer, nicht mein Zimmer), blickte sich um und nahm etwas Bestürzendes wahr. Keine Bücher. Kein einziges. Das war genauso schlimm wie kein Computer. Vielleicht noch schlimmer. Er trat zur Kommode und zog nacheinander die Schubladen auf, weil er dort wenigstens eine Bibel oder das Buch Mormon zu finden hoffte wie in manchen Hotelzimmern. Doch lagen darin nur säuberlich aufgestapelte Unterwäsche und Socken.
Was blieb ihm da noch? Steve Harvey, der David Hasselhoff interviewte? Wiederholungen von America’s Funniest Home Videos?
Nein. Kam nicht infrage.
Er verließ das Zimmer, weil er dachte, Kalisha oder jemand von den anderen könnte draußen herumhängen. Stattdessen fand er Maureen Alvorson vor, die ihren Wäschewagen langsam den Flur entlangschob. Darin türmten sich gefaltete Laken und Handtücher. Maureen sah noch erschöpfter aus als zuvor und schien außer Atem zu sein.
»Hallo, Ms. Alvorson. Soll ich den Wagen für Sie schieben?«
»Das wäre nett«, sagte sie und lächelte. »Es kommen nämlich fünf Neue, zwei heute Abend und drei morgen, und ich muss die Zimmer fertig machen. Die sind da hinten.« Sie deutete in die Gegenrichtung von Aufenthaltsraum und Spielplatz.
Er schob den Wagen langsam weiter, weil Maureen langsam ging. »Wissen Sie vielleicht, wie ich mir eine Münze verdienen kann, Ms. Alvorson? Ich brauche nämlich eine, um den Computer in meinem Zimmer zu entsperren.«
»Kannst du ein Bett machen, wenn ich danebenstehe und dir sage, wie das geht?«
»Klar. Zu Hause mache ich mein Bett selbst.«
»Weißt du auch, wie man das Laken ganz straff bekommt?«
»Hm… nein.«
»Macht nichts, das zeige ich dir schon. Wenn du alle fünf Betten für mich machst, gebe ich dir drei Münzen. Mehr habe ich nicht in der Tasche. Da hält man mich nämlich knapp.«
»Das wäre super.«
»Na gut, aber jetzt ist endlich Schluss mit Ms. Alvorson. Du sagst Maureen zu mir oder einfach Mo. Genau wie die anderen Kids.«
»Mach ich«, sagte Luke.
Sie gingen am Aufzug vorbei in den hinteren Flur, wo weitere Poster mit motivierenden Sprüchen hingen. Außerdem stand da ein Eiswürfelspender wie in manchen Hotels, für den man offenbar keine Münzen brauchte. Direkt dahinter legte Maureen Luke die Hand auf den Arm. Er ließ den Wagen stehen und sah sie fragend an.
Sie flüsterte fast. »Ich sehe, du hast einen Chip bekommen, aber keine einzige Münze.«
»Na ja…«
»Du kannst reden, solange du leise sprichst. Hier im Vorderbau gibt es ein halbes Dutzend Stellen, wo die verdammten Mikrofone nicht hinreichen. Tote Zonen, und die kenne ich alle. Hier ist eine, direkt neben dem Automaten.«
»Okay…«
»Wer hat dir den Chip reingemacht und dir dabei den blauen Fleck da verpasst? War das Tony?«
Lukes Augen brannten, und er traute sich nicht zu, etwas zu sagen, egal ob er belauscht wurde oder nicht. Deshalb nickte er nur.
»Das ist einer von denen, die richtig gemein sind«, sagte Maureen. »Zeke gehört auch dazu. Und Gladys, obwohl die dauernd lächelt. Viele von den Leuten, die hier arbeiten, stehen drauf, euch Kinder zu schikanieren, aber die drei sind mit die schlimmsten.«
»Tony hat mich geschlagen«, flüsterte Luke. »Richtig fest.«
Sie zauste ihm die Haare. Das war etwas, was Frauen mit Babys und kleinen Kindern machten, doch das störte Luke nicht. Er wurde mit freundlicher Absicht berührt, und das bedeutete ihm jetzt viel. In diesem Moment war das unheimlich wichtig.
»Tu, was er von dir verlangt«, sagte Maureen. »Diskutier nicht mit ihm, kann ich dir bloß raten. Es gibt hier Leute, mit denen man diskutieren kann, sogar mit Mrs. Sigsby, wobei das nicht viel bringt, aber Tony und Zeke sind wie Skorpione. Gladys auch. Die stechen zu.«
Sie ging wieder los, aber Luke fasste sie am Ärmel ihrer braunen Uniform und zog sie in den abhörsicheren Bereich zurück. »Ich glaube, Nicky hat Tony angegriffen«, flüsterte er. »Er hat eine Wunde und ein blaues Auge.«
Maureen lächelte, wobei sie ein Gebiss entblößte, das sich schon lange nach dem Zahnarzt sehnte. »Gut für Nick«, sagte sie. »Tony hat es ihm wahrscheinlich doppelt heimgezahlt, aber trotzdem… gut. Komm jetzt. Wenn du mir hilfst, sind die Zimmer im Nu fertig.«