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11

Mrs. Sigsby erinnerte Luke an Tante Rhoda, die älteste Schwester seines Vaters. Wie diese war sie so hager, dass man kaum eine Andeutung von Hüften und Brüsten sah. Nur dass Tante Rhoda Lachfältchen um den Mund und immer einen warmherzigen Blick hatte. Sie genoss es, andere Leute zu umarmen. Von der Frau, die in einem violetten Kostüm und passenden High Heels neben ihrem Schreibtisch stand, waren wohl keine Umarmungen zu erwarten. Vielleicht ab und zu ein Lächeln, aber ausgesprochen selten. In den Augen von Mrs. Sigsby sah Luke einen sorgfältig abschätzenden Ausdruck und sonst nichts. Absolut nichts.

»Danke, Hadad, ich komme alleine zurecht.«

Der Pfleger – so musste man Hadad wohl bezeichnen – nickte respektvoll und verließ das Büro.

»Fangen wir mit etwas Offensichtlichem an«, sagte sie. »Wir sind allein. Ich verbringe mit jedem Neuankömmling bald nach seinem Eintreffen etwa zehn Minuten allein. Manche waren so desorientiert und wütend, dass sie versucht haben, mich anzugreifen. Das nehme ich ihnen nicht übel. Weshalb sollte ich das tun, um Himmels willen? Unsere ältesten Insassen sind sechzehn, das Durchschnittsalter beträgt elf Jahre und sechs Monate. Anders gesagt, handelt es sich um Kinder, und Kinder verfügen über eine bestenfalls schwache Impulskontrolle. Deshalb sehe ich ein solch aggressives Verhalten als Gelegenheit, ihnen etwas beizubringen… und das tue ich. Ob ich dir wohl etwas beibringen muss, Luke?«

»Nicht in dieser Hinsicht«, sagte Luke. Er fragte sich, ob Nicky wohl zu denen gehörte, die versucht hatten, diese gepflegte kleine Frau zu attackieren. Vielleicht würde er später danach fragen.

»Gut. Setz dich, bitte.«

Luke setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, beugte sich vor und verschränkte zwischen den Knien fest die Hände. Mrs. Sigsby saß ihm mit dem Blick einer Schuldirektorin gegenüber, die keinerlei Unsinn duldete. Die hart gegen jeden Unsinn vorgehen würde. Bisher war Luke noch auf keinerlei gnadenlose Erwachsene getroffen, aber jetzt hatte er vielleicht so jemand vor sich. Das war eine erschreckende Vorstellung, weshalb sein erster Impuls darin bestand, sie als lächerlich abzutun. Er unterdrückte die Regung. Es war besser anzunehmen, dass er bisher einfach nur ein behütetes Leben geführt hatte. Es war besser – und sicherer–, die Frau als das zu sehen, wofür er sie hielt, falls sie ihm nicht das Gegenteil bewies. Er war in einer schlimmen Lage, daran bestand kein Zweifel. Sich etwas vorzumachen konnte der größtmögliche Fehler sein.

»Du hast schon Freundschaften geschlossen, Luke. Das ist gut, ein guter Anfang. Während deiner Zeit im Vorderbau wirst du noch weitere Kinder kennenlernen. Zwei davon, ein Junge namens Avery Dixon und ein Mädchen namens Helen Simms, sind soeben eingetroffen. Jetzt schlafen sie, aber du wirst bald ihre Bekanntschaft machen, die von Helen vielleicht schon, bevor um zweiundzwanzig Uhr die Nachtruhe beginnt. Avery wird eventuell die ganze Nacht durchschlafen. Er ist noch ziemlich jung und wird bestimmt in einem ziemlich emotionalen Zustand sein, wenn er aufwacht. Ich hoffe, dass du ihn unter deine Fittiche nehmen wirst, was gewiss auch Kalisha, Iris und George tun werden. Womöglich sogar Nick, obgleich man seine Reaktion schwer vorhersehen kann. Das gilt auch für ihn selbst, vermute ich. Wenn du Avery hilfst, sich in seiner neuen Situation zu akklimatisieren, wirst du dir Wertmünzen verdienen, die – wie du weißt – hier im Institut als primäres Zahlungsmittel dienen. Ob du das tust, bleibt ganz dir überlassen, aber wir werden dich beobachten.«

Das ist mir völlig klar, dachte Luke. Und belauschen werdet ihr mich auch. Außer an den wenigen Orten, wo das nicht möglich ist. Falls Maureen damit recht hat.

»Deine Freunde haben dir eine Reihe Informationen gegeben, die teilweise zutreffend und teilweise absolut unzutreffend sind. Was ich dir jetzt erzählen werde, ist in jeder Hinsicht zutreffend, also hör sorgfältig zu.« Sie beugte sich vor, legte die Hände flach auf den Tisch und sah ihm in die Augen. »Spitzt du die Ohren, Luke? Ich werde das, was ich jetzt sage, nämlich nicht wiederkäuen, wie es so schön heißt.«

»Ja.«

»Ja was?«, fuhr sie ihn an, während ihre Miene völlig ruhig blieb.

»Ohren gespitzt. Volle Aufmerksamkeit.«

»Ausgezeichnet. Du wirst einen gewissen Zeitraum im Vorderbau verbringen. Das können zehn Tage oder auch zwei Wochen sein, womöglich sogar ein ganzer Monat, wenngleich nur wenige von unseren Rekruten so lange bleiben.«

»Rekruten? Wollen Sie damit sagen, dass ich eingezogen worden bin?«

Sie nickte energisch. »Genau das will ich sagen. Es tobt ein Krieg, und du bist aufgerufen worden, deinem Land zu dienen.«

»Aber wieso? Weil ich ab und zu ein Glas oder ein Buch verschieben kann, ohne es anzufassen? Das ist doch be…«

»Halt den Mund!«

Davon beinah genauso geschockt wie von Tonys brutaler Ohrfeige, gehorchte Luke.

»Wenn ich spreche, hörst du zu. Du unterbrichst mich nicht. Ist das klar?«

Da Luke seiner Stimme nicht vertraute, nickte er nur.

»Man könnte auch sagen, es handelt sich um ein Wettrüsten mit geistigen Waffen, und wenn wir es verlieren, wären die Folgen mehr als schrecklich; sie wären unvorstellbar. Du bist zwar erst zwölf, aber dennoch bist du ein Soldat in einem nicht erklärten Krieg. Dasselbe gilt für Kalisha und die anderen. Gefällt dir das? Natürlich nicht. Leuten, die eingezogen werden, gefällt das nie, weshalb man ihnen manchmal beibringen muss, dass es Konsequenzen hat, wenn sie Befehle nicht befolgen. Ich glaube, du hast diesbezüglich bereits eine Lektion erhalten. Wenn du so gescheit bist, wie es deine Akten nahelegen, brauchst du vielleicht keine weitere. Falls doch, wirst du sie erhalten. Das hier ist nicht dein Zuhause, und deine Schule ist es auch nicht. Du musst dann nicht einfach eine zusätzliche Aufgabe im Haushalt erledigen oder zum Direktor oder nachsitzen, sondern du wirst bestraft werden. Klar?«

»Ja.« Gute Jungen und Mädchen bekamen Münzen, böse wurden mit Ohrfeigen traktiert. Oder Schlimmerem. Ein grauenvolles, aber simples Verfahren.

»Du wirst eine Reihe Injektionen erhalten. Außerdem werden mehrere Tests an dir durchgeführt. Währenddessen wird dein physischer und mentaler Zustand überwacht. Irgendwann wirst du dann in den sogenannten Hinterbau überstellt, wo du verschiedene Dienste zu leisten hast. Dein Aufenthalt im Hinterbau kann bis zu sechs Monate dauern; die durchschnittliche Länge des aktiven Dienstes beträgt allerdings lediglich sechs Wochen. Anschließend werden deine Erinnerungen ausgelöscht, und dann schicken wir dich heim zu deinen Eltern.«

»Die sind am Leben? Meine Eltern sind noch am Leben?«

Sie lachte, was sich erstaunlich fröhlich anhörte. »Natürlich sind sie noch am Leben. Wir sind doch keine Mörder, Luke!«

»Dann will ich mit ihnen sprechen. Wenn Sie mich mit ihnen sprechen lassen, tue ich alles, was Sie wollen.« Die Worte waren ihm aus dem Mund geschlüpft, bevor ihm klar wurde, wie unbesonnen sein Versprechen war.

»Nein, Luke. Offenbar verstehen wir uns immer noch nicht richtig.« Sie lehnte sich zurück und legte die Hände wieder flach auf den Tisch. »Das hier ist keine Verhandlung. Du wirst in jedem Falle tun, was wir wollen. Glaub mir das lieber, dann ersparst du dir eine Menge Schmerzen. Während deines Aufenthalts im Institut wirst du keinerlei Kontakt mit der Außenwelt haben, was deine Eltern einschließt. Du wirst sämtliche Anordnungen befolgen. Du wirst dich an sämtliche Vorschriften halten. Dennoch wirst du die Anordnungen und Vorschriften weder hart noch beschwerlich finden, bis auf ein paar wenige Ausnahmen vielleicht. Deine Zeit hier wird rasch vergehen, und wenn du uns verlässt und eines schönen Morgens im eigenen Zimmer aufwachst, wird nichts von alledem geschehen sein. Leider wirst du nicht einmal wissen, dass du das wunderbare Privileg hattest, deinem Land zu dienen. Was zumindest ich traurig finde.«