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»Ich weiß nicht, wie das gehen soll«, sagte Luke. Er sprach mehr zu sich selbst als zu Mrs. Sigsby, was er immer tat, wenn etwas – ein physikalisches Problem, ein Gemälde von Manet, die kurz- und langfristigen Auswirkungen von Schulden – seine Aufmerksamkeit vollständig in Anspruch nahm. »Mich kennen so viele Leute. In der Schule… die Kollegen von meinen Eltern… meine Freunde… Man kann doch nicht die Erinnerung von denen allen auslöschen.«

Sie lachte nicht, aber sie lächelte. »Ich glaube, du wärst verblüfft darüber, was wir alles tun können. Aber jetzt sind wir fertig.« Sie erhob sich, kam um den Tisch herum und streckte ihm die Hand hin. »Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen.«

Luke stand ebenfalls auf, ergriff die Hand jedoch nicht.

»Gib mir die Hand, Luke.«

Etwas in ihm wollte gehorchen, alte Gewohnheiten waren schwer abzulegen, aber er ließ die Hand an der Seite hängen.

»Gib mir die Hand, sonst wirst du es bereuen. Ich sag es dir nicht noch einmal.«

Er sah, dass sie es voll und ganz meinte, deshalb gab er ihr die Hand. Sie hielt sie fest. Sie drückte zwar nicht zu, aber er merkte, dass ihre Hand sehr kräftig war. Ihre Augen bohrten sich in seine. »Wir sehen uns, wie man so sagt, eventuell mal auf dem Campus, aber der jetzige ist hoffentlich dein einziger Besuch in meinem Büro. Solltest du noch einmal hierherbestellt werden, wird unsere Unterhaltung weniger angenehm sein. Hast du verstanden?«

»Ja.«

»Gut. Ich weiß, dass alles eine dunkle Zeit für dich ist, aber wenn du tust, was man dir sagt, wirst du irgendwann in den Sonnenschein hinaustreten. Glaub mir. Und jetzt ab mit dir!«

Als er das Zimmer verließ, fühlte er sich wieder wie in einem Traum oder wie Alice im Kaninchenbau. Er wurde von Hadad erwartet, der mit der Sekretärin oder Assistentin von Mrs. Sigsby oder wie auch immer plauderte. »Ich bringe dich in dein Zimmer zurück. Bleib schön nah neben mir, ja? Versuch bloß nicht, in den Wald zu rennen.«

Sie gingen hinaus, aber auf dem Weg zum Vorderbau blieb Luke stehen, weil ihm plötzlich schwindlig wurde. »Halt«, sagte er. »Warten Sie mal.«

Er beugte sich vor und stützte sich auf die Knie. Einen Moment lang wimmelten farbige Lichter vor seinen Augen.

»Kippst du vielleicht gleich um?«, fragte Hadad. »Was meinst du?«

»Nein«, sagte Luke. »Aber lassen Sie mir noch ein paar Sekunden Zeit.«

»Klar doch. Du hast eine Spritze bekommen, oder?«

»Ja.«

Hadad nickte. »Auf manche Kids wirkt das so. Verzögerte Reaktion.«

Luke wartete auf die Frage, ob er Blitze oder Punkte sehe, aber Hadad wartete nur. Dabei pfiff er durch die Zähne und wedelte die ihn umschwärmenden Stechmücken weg.

Luke dachte an die kalten Augen von Mrs. Sigsby und an ihre strikte Weigerung, ihm zu sagen, wie ein solcher Ort überhaupt existieren könne ohne irgendeine Form von… Wie konnte man das sagen? Ohne Mitwirkung der Behörden vielleicht. Es war, als würde sie ihn dazu herausfordern, selbst die logischen Schlüsse zu ziehen.

Wenn du tust, was man dir sagt, wirst du irgendwann in den Sonnenschein hinaustreten. Glaub mir.

Er war erst zwölf und wusste, dass seine Lebenserfahrung beschränkt war, aber eines war ihm vollständig klar: Wenn jemand glaub mir sagte, dann log er normalerweise nach Strich und Faden.

»Fühlst du dich besser? Können wir weitergehen, mein Sohn?«

»Ja.« Luke richtete sich auf. »Aber ich bin nicht Ihr Sohn.«

Hadad grinste, wobei sein Goldzahn aufblitzte. »Vorläufig schon. Du bist ein Sohn des Instituts, Luke. Lass einfach locker und gewöhn dich daran.«

12

Sobald sie das Gebäude betreten hatten, rief Hadad den Aufzug, sagte: »See you later, alligator« und trat hinein. Luke wollte sich schon auf den Weg zu seinem Zimmer machen, als er Nicky Wilholm gegenüber dem Eiswürfelspender auf dem Boden sitzen und ein Schokotörtchen futtern sah. Über ihm hing ein Poster mit zwei im Comicstil gezeichneten Streifenhörnchen, aus deren grinsenden Mäulern Sprechblasen kamen. Das linke Hörnchen sagte: »Lebe das Leben, das du liebst!« Das andere sagte: »Liebe das Leben, das du lebst!« Verwirrt starrte Luke darauf.

»Was meinst du, wie man so ein Poster an einem solchen Ort nennt, kluger Junge?«, fragte Nicky. »Ironisch, sarkastisch oder schlicht Bullshit?«

»Passt alles«, sagte Luke und setzte sich neben ihn.

Nicky hielt ihm die Packung hin. »Willst du das andere?«

Luke wollte. Er bedankte sich, schälte das knittrige Papier ab und verschlang das Törtchen mit drei schnellen Bissen.

Nicky betrachtete ihn belustigt. »Du hast deine erste Spritze gekriegt, was? Danach ist man brutal scharf auf Zucker. Beim Abendessen wirst du nicht viel runterkriegen, aber den Nachtisch schon. Garantiert. Hast du schon irgendwelche Blitze gesehen?«

»Nein.« Dann fiel ihm ein, wie er sich draußen auf die Knie gestützt und gewartet hatte, bis der Schwindel vorüberging. »Vielleicht. Wie sehen die denn aus?«

»Die MTAs nennen sie Stass-Lichter. Sie gehören zur Vorbereitung. Mir hat man nur ein paar Spritzen und fast keine gruseligen Tests verpasst, weil ich TK-pos bin. Genau wie George, und Sha ist TP-pos. Wenn man normal ist, kriegt man mehr.« Er dachte nach. »Na ja, normal ist keiner von uns, sonst wären wir nicht hier, aber du weißt schon, was ich meine.«

»Versuchen sie damit, unsere Fähigkeiten zu verstärken?«

Nicky zuckte die Achseln.

»Und worauf bereiten sie uns vor?«

»Auf das, was im Hinterbau abgeht. Wie lief’s eigentlich bei der Oberzicke? Hat die davon geschwafelt, dass du deinem Land dienst?«

»Sie hat gesagt, ich wäre eingezogen worden. Ich komme mir eher geschanghait vor. Wenn die Kapitäne früher, im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, Matrosen für ihre Schiffe brauchten…«

»Ich weiß, was schanghaien bedeutet, Lukey, schließlich bin auch ich zur Schule gegangen. Abgesehen davon hast du nicht unrecht.« Er stand auf. »Komm, gehen wir raus auf den Spielplatz. Dann kannst du mir noch eine Schachlektion erteilen.«

»Ich glaube, ich will mich bloß hinlegen«, sagte Luke.

»Du siehst ziemlich bleich aus, das stimmt. Aber der Zucker hat geholfen, oder? Gib’s zu!«

»Hat er«, sagte Luke. »Was hast du getan, um eine Münze zu bekommen?«

»Gar nichts. Maureen hat mir eine zugesteckt, bevor sie mit der Arbeit fertig war. Was sie angeht, hat Kalisha recht.« Das sagte Nicky beinahe widerwillig. »Wenn es einen guten Menschen in diesem beschissenen Kasten gibt, dann ist sie es.«

Sie waren an Lukes Tür angekommen. Nicky hob die Faust, und Luke schlug mit seiner dagegen.

»Bis nachher, wenn das Dingdong schallt, kluger Junge. Halt bis dahin deinen Piephahn steif.«

MAUREEN UND AVERY

1

Luke versank in einen mit unangenehmen Traumfragmenten durchsetzten Schlaf und wachte erst auf, als das Dingdong das Abendessen ankündigte. Er war froh, es zu hören. Nicky hatte unrecht gehabt, er wollte durchaus etwas essen, und außerdem war er hungrig nach Gesellschaft. Dennoch blieb er auf dem Weg durch den Aufenthaltsraum stehen, um sich zu vergewissern, dass die anderen ihn nicht verarscht hatten. Das hatten sie nicht. Neben dem Snackautomaten stand ein gut bestückter Zigarettenautomat. Das Leuchtbild oben zeigte ein schick gekleidetes Paar, das lachend und rauchend auf einem Balkon stand. Daneben stand ein weiterer Automat mit alkoholischen Getränken in kleinen Flaschen – die alkoholgeneigten Kids an Lukes Schule hätten sie als »Flugzeugportionen« bezeichnet. Eine Packung Zigaretten bekam man für acht Münzen, ein Fläschchen Leroux Blackberry Wine für fünf. Auf der anderen Seite des Raums stand eine knallrote Coca-Cola-Kühltruhe.