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Jemand packte Luke von hinten und hob ihn hoch. Als er erschreckt aufschrie, hörte er die lachende Stimme von Nicky in seinem Ohr.

»Zehn kleine Zappelmänner zappeln hin und her, zehn kleinen Zappelmännern fällt das gar nicht schwer.«

»Lass mich runter!«

Stattdessen schwenkte Nicky ihn hin und her. »Ein kleiner Zappel-Lukey zappelt auf und nieder, ein kleiner Zappel-Lukey tut das immer wieder!«

Er setzte Luke ab, wirbelte ihn herum, hob die Hände und begann im Takt der aus den Deckenlautsprechern dudelnden Fahrstuhlmusik zu tanzen. Kalisha und Iris, die hinter ihm standen, betrachteten das Ganze mit derselben vielsagenden Miene: Jungs halt!

»Na, wie wär’s mit einem kleinen Ringkampf, Lukey? Mal sehen, wie du auf und nieder zappelst!«

»Steck mir die Nase in den Hintern, dann kannst du nach Luft ringen«, sagte Luke und musste lachen. Egal ob Nicky in guter oder schlechter Stimmung war, auf jeden Fall war er lebendig.

»Guter Spruch«, sagte George und drängte sich zwischen die beiden Mädchen. »Den merke ich mir für später.«

»Denk dran, dass ich das Copyright hab«, sagte Luke.

Nicky hörte auf zu tanzen. »Mensch, hab ich ein Loch im Bauch! Los, setzen wir uns hin.«

Luke hob den Deckel der Cola-Truhe. »Limo gibt es umsonst, seh ich das richtig? Man zahlt bloß für Alkohol, Kippen und Snacks.«

»Das siehst du völlig richtig«, sagte Kalisha.

»Und, äh…« Er deutete auf den Snackautomaten. Die meisten Süßigkeiten gab es für eine einzelne Münze, aber für die, auf die er zeigte, brauchte man sechs. »Ist das etwa…«

»Du willst wissen, ob High Boy Brownies das sind, was du denkst?«, sagte Iris. »Ich hab sie zwar noch nie probiert, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du richtig liegst.«

»Korrekt«, sagte George. »Bei mir haben sie jedenfalls gewirkt, mir aber außerdem einen Ausschlag beschert. Ich bin offenbar allergisch dagegen. Aber jetzt auf zum Essen!«

Sie setzten sich an denselben Tisch wie mittags. Anstelle von NORMA wurden sie von SHERRY bedient. Luke bestellte sich Hacksteak mit panierten Champignons und Salat, außerdem etwas, was sich als Vanillecreme-Brület ausgab. In diesem finsteren Wunderland gab es zwar offenbar ein paar intelligente Leute – auf jeden Fall war ihm Mrs. Sigsby nicht gerade beschränkt vorgekommen–, aber die Person, von der die Speisekarte erstellt wurde, gehörte wohl nicht dazu. Oder war das intellektueller Snobismus von seiner Seite?

Luke gelangte zu dem Schluss, dass ihm das egal war.

Sie unterhielten sich eine Weile über die jeweilige Schule, die sie besucht hatten, bevor sie aus ihrem normalen Leben gerissen worden waren – ganz gewöhnliche Schulen, soweit Luke das beurteilen konnte, keine speziellen für außergewöhnliche Kinder – und über die Fernsehsendungen und Filme, die sie sich am liebsten ansahen. Alles war gut, bis Iris mit der Hand über ihre sommersprossige Wange strich und Luke merkte, dass sie weinte. Nicht heftig, nur ein bisschen, aber das waren eindeutig Tränen.

»Spritzen haben sie mir heute keine verpasst, aber das verdammte Arschthermo«, sagte sie. Als sie Lukes verwirrte Miene sah, grinste sie, wobei eine weitere Träne an ihrer Wange herabkullerte. »Die messen unsere Temperatur rektal.«

Die anderen nickten. »Keine Ahnung, wieso, aber es ist erniedrigend«, sagte George.

»Außerdem ist es total veraltet«, sagte Kalisha. »Bestimmt haben sie irgendeinen Grund, aber…« Sie hob die Schultern.

»Wer will Kaffee?«, fragte Nick. »Ich hole ihn, wenn ihr…«

»He!«

Das kam von der Tür her. Sie drehten sich um und sahen ein Mädchen in Jeans und einem ärmellosen Top. Ihre kurzen, stachligen Haare waren auf einer Seite grün und auf der anderen bläulich rot gefärbt. Trotz dieser punkigen Erscheinung sah sie aus wie ein Kind aus einer Märchengeschichte, das sich im Wald verirrt hatte. Luke schätzte, dass sie ungefähr in seinem Alter war.

»Wo bin ich? Weiß jemand von euch, was das hier für ein Ort ist?«

»Komm rüber, Sonnenschein!«, sagte Nicky und ließ sein strahlendes Lächeln aufblitzen. »Setz dich zu uns, und probier die Köstlichkeiten, die man uns serviert.«

»Ich bin nicht hungrig«, sagte die Neue. »Sagt mir bloß eins. Wen muss ich allemachen, um hier rauszukommen?«

So lernten sie Helen Simms kennen.

2

Nach dem Essen gingen sie hinaus auf den Spielplatz (Luke vergaß nicht, sich vorher dick mit Mückenmittel einzuschmieren) und klärten Helen auf. Wie sich herausstellte, war sie TK und wie George und Nicky positiv. Was sie bewies, indem sie mehrere Schachfiguren umkippen ließ, die Nicky aufs Brett gestellt hatte.

»Nicht bloß pos, sondern brutal pos«, sagte George. »Lass mich das auch mal versuchen.« Es gelang ihm, einen Bauern umfallen zu lassen, und der schwarze König schaukelte ein bisschen hin und her, aber das war alles. George lehnte sich zurück und blies die Wangen auf. »Okay, du hast gewonnen, Helen.«

»Ich glaub, wir sind alle Verlierer«, sagte sie. »Ziemlich sicher sogar.«

Luke fragte sie, ob sie sich Sorgen um ihre Eltern mache.

»Nicht besonders. Mein Vater ist Alkoholiker. Als ich sechs war, hat meine Mutter sich von ihm scheiden lassen und – wer hätte das gedacht – einen anderen Alkoholiker geheiratet. Offenbar dachte sie, wenn sie solche Typen sowieso nicht loswird, sollte sie lieber mitmachen, denn inzwischen säuft sie auch. Meinen Bruder vermisse ich aber schon. Meint ihr, dem ist was passiert?«

»Ach, bestimmt nicht«, sagte Iris ohne große Überzeugung, dann schlenderte sie zum Trampolin und begann zu hüpfen. Wenn Luke das so bald nach einer Mahlzeit getan hätte, wäre ihm schlecht geworden, aber Iris hatte nicht viel gegessen.

»Also noch mal zum Mitschreiben«, sagte Helen. »Ihr wisst nicht, wieso wir hier sind, außer dass es vielleicht mit gewissen übersinnlichen Fähigkeiten zu tun hat, mit denen man nicht mal die Vorrunde von America’s Got Talent überstehen würde.«

»Wir kämen nicht mal in Little Big Shots«, sagte George.

»Sie machen Tests an uns, bis wir Blitze sehen, aber ihr wisst nicht, weshalb.«

»Korrekt«, sagte Kalisha.

»Dann stecken sie uns in den sogenannten Hinterbau, aber was da läuft, wisst ihr auch nicht.«

»Jep«, sagte Nicky. »Kannst du eigentlich Schach spielen oder bloß die Figuren umschmeißen?«

Sie beachtete ihn nicht. »Und wenn sie mit uns fertig sind, kriegen wir eine Gehirnwäsche wie in einem Science-Fiction-Film und leben glücklich bis an unser Lebensende.«

»So sieht’s aus«, sagte Luke.

Helen dachte nach. »Hört sich beschissen an«, sagte sie dann.

»Tja«, sagte Kalisha. »Deshalb hat Gott uns wohl Alcopops und High Boy Brownies geschenkt.«

Luke hatte genug. Er würde bald wieder in Tränen ausbrechen; das fühlte er kommen wie ein nahendes Gewitter. Iris würde wohl nichts daran finden, wenn er das in Gesellschaft täte, weil sie ein Mädchen war, aber er hatte eine gewisse Vorstellung (theoretisch überholt, aber dennoch wirkungsvoll), wie Jungen sich zu verhalten hatten. Nämlich wie Nicky.

Er verzog sich in sein Zimmer, schloss die Tür, ließ sich aufs Bett fallen und legte den Arm über die Augen. Da fiel ihm völlig grundlos Richie Rocket in seinem silbernen Raumanzug ein. Richie Rocket, der so begeistert tanzte, wie Nicky Wilholm es vor dem Abendessen getan hatte, während die kleinen Kinder mit ihm zu »Mambo Number 5« tanzten, kreischend vor Lachen. Als ob nichts auf der Welt schieflaufen könnte, als ob ihr Leben immer voll harmloser Späße sein würde.