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Dann kamen ihm die Tränen, weil er verängstigt und zornig war, aber vor allem, weil er Heimweh hatte. Bisher hatte er nie begriffen, was dieses Wort bedeutete. Das hier war nicht wie im Sommerlager und nicht wie bei einem Schulausflug. Das hier war ein Albtraum, und er wollte, dass der vorüberging. Er wollte aufwachen. Und weil das nicht möglich war, schlief er ein, während seine schmale Brust noch von ein paar letzten Schluchzern zuckte.

3

Weitere schlechte Träume.

Erschrocken wachte er aus einem auf, in dem ein kopfloser schwarzer Hund ihn den Wildersmoot Drive entlanggehetzt hatte. Einen kurzen, wunderbaren Moment lang dachte er, dass alles nur ein Traum gewesen war und dass er wieder in seinem echten Zimmer lag. Dann fiel sein Blick auf den Schlafanzug, der nicht seiner war, und auf die Wand, in der ein Fenster hätte sein sollen. Luke ging auf die Toilette, und weil er nicht mehr müde war, schaltete er anschließend den Laptop ein. Ob er wohl wieder eine Münze brauchte? Dem war nicht so. Vielleicht galt eine Münze für vierundzwanzig oder gar – wenn er Glück hatte – für achtundvierzig Stunden. Laut der Leiste am oberen Bildschirmrand war es Viertel nach drei Uhr morgens. Also noch lange hin bis zur Dämmerung. Daran war er selbst schuld, weil er erst einen Nachmittagsschlaf gehalten und dann so früh am Abend ins Bett gegangen war.

Er überlegte, ob er auf Youtube gehen und sich ein paar alte Zeichentrickfilme anschauen sollte, Sachen wie Popeye, bei denen er und Rolf sich immer lachend auf dem Boden wälzten und brüllten: »Wo ist mein Spinat?«, und: »Ack, ack, ack!« Aber er hatte so eine Ahnung, dass dann nur sein Heimweh zurückkehren würde, und zwar mit aller Macht. Was konnte er sonst anfangen? Wieder ins Bett gehen, um wach dazuliegen, bis es hell wurde? Durch die leeren Flure wandern? Den Spielplatz aufsuchen? Das war zwar möglich, Kalisha hatte gesagt, die Tür sei nie abgeschlossen, aber es wäre zu unheimlich gewesen da draußen.

»Wieso denkst du dann nicht einfach mal nach, du Arschloch?«

Das sagte er mit leiser Stimme, zuckte jedoch trotzdem zusammen, als er die Worte hörte. Er hob sogar halb die Hand, als wollte er sich den Mund zuhalten. Dann stand er auf und ging im Zimmer umher. Seine bloßen Füße klatschten über den Boden, die Pyjamahose flatterte. Wieso dachte er eigentlich nicht nach? Das war eine gute Frage, denn angeblich war er doch gut darin. Lucas Ellis, der kluge Junge. Das kleine Genie. Steht auf Popeye den Seemann und auf Call of Duty, spielt im Garten gern Baseball, beherrscht jedoch auch ziemlich gut Französisch, zumindest schriftlich – wenn er sich auf Netflix französische Filme anschaut, braucht er noch Untertitel, weil da alle so schnell sprechen und die Redewendungen schlicht irre sind. Avoir un chat dans la gorge zum Beispiel. Wieso sollte man eine Katze im Hals haben, wenn ein Frosch doch viel einleuchtender war? Er konnte eine ganze Schultafel mit mathematischen Gleichungen füllen, er konnte das gesamte Periodensystem der Elemente herunterrattern, er konnte jeden amerikanischen Vizepräsidenten bis hin zu dem von George Washington aufzählen, er konnte eine einleuchtende Erklärung dafür liefern, weshalb man nie mit Lichtgeschwindigkeit reisen würde außer in Filmen.

Weshalb saß er dann jetzt bloß da und tat sich leid?

Was könnte ich denn sonst tun?

Luke beschloss, das als echte Frage zu begreifen anstatt als Ausdruck von Verzweiflung. Zu fliehen war wahrscheinlich unmöglich, aber wie stand es damit, mehr über seinen Aufenthaltsort zu erfahren?

Als er versuchte, die New York Times aufzurufen, stieß er nur auf HAL 9000; für die Institutskids gab es keine Nachrichten. Die Frage war, ob er die Sperre umgehen konnte. Gab es eine Hintertür? Eventuell.

Probieren wir das doch mal, dachte er. Probieren wir es einfach aus. Er tippte #!cloakofGriffin!# in die Adresszeile von Firefox.

Griffin war die Hauptfigur in Der Unsichtbare von H. G. Wells, und die betreffende Website, von der Luke etwa ein Jahr zuvor erfahren hatte, bot die Möglichkeit, sich der elterlichen Kontrolle zu entziehen. Sie war nicht das Darknet, aber so etwas Ähnliches. Luke hatte sie verwendet, aber nicht um auf den Computern seiner Schule Porno-Portale aufzusuchen (wenngleich er und Rolf das ein paarmal getan hatten) oder um IS-Henkern beim Köpfen zuzusehen. Er hatte das Konzept einfach cool gefunden und herausbekommen wollen, ob es wirklich funktionierte. Zu Hause und in der Schule hatte es das getan, aber hier? Das konnte man nur herausfinden, wenn man es ausprobierte, weshalb er auf die Eingabetaste tippte.

Das WLAN des Instituts kaute eine Weile darauf herum – es war langsam–, aber gerade als Luke schon dachte, es sei aussichtslos, beförderte es ihn zu Griffin. Oben auf dem Bildschirm sah man den Unsichtbaren aus dem Wells-Roman, den Kopf mit Bandagen umwickelt und eine krasse Schutzbrille über den Augen. Darunter stand eine Frage, die zugleich eine Einladung darstellte: WELCHE SPRACHE SOLL ÜBERSETZT WERDEN? Die Liste war lang und reichte von Assyrisch bis Zulu. Schön daran war, dass es nicht darauf ankam, welche Sprache man auswählte; wichtig war lediglich, was im Suchverlauf aufgezeichnet wurde. Früher einmal war auf Google ein Geheimgang zur Vermeidung elterlicher Kontrolle verfügbar gewesen, doch den hatten die Weisen von Mountain View verrammelt. Daher die Tarnkappe von Griffin.

Luke wählte aufs Geratewohl Deutsch aus und erhielt die Aufforderung: PASSWORT EINGEBEN. Mithilfe dessen, was sein Vater manchmal als sein gespenstisches Gedächtnis bezeichnete, tippte Luke #x49ger194GbL4 ein. Das Internet kaute wieder eine kleine Weile vor sich hin, dann verkündete es: PASSWORT AKZEPTIERT.

Er gab New York Times ein und tippte auf Enter. Diesmal dachte das System noch länger nach, doch nach einer Weile erschien tatsächlich die Times auf dem Bildschirm. Die aktuelle Ausgabe und auf englisch, aber von diesem Punkt an würde im Suchverlauf des Computers lediglich eine Reihe von deutschen Wörtern und deren englische Übersetzung aufgezeichnet werden. Was vielleicht ein kleiner Sieg war oder ein großer. Momentan war Luke das völlig egal. Es war ein Sieg, was erst mal ausreichte.

Wie schnell würden seine Gefängniswärter wohl erkennen, was er da tat? Den Suchverlauf des Computers zu kaschieren würde nichts nützen, wenn sie seine Aktivität live beobachten konnten. Dann würden sie die Website der Zeitung sehen und ihm den Strom abstellen. Deshalb durfte er sich jetzt nicht um die New York Times mit ihrer Schlagzeile über Trump und Nordkorea kümmern; bevor er entdeckt wurde, musste er die Site der Star Tribune checken, ob da etwas über seine Eltern stand. Aber bevor er das tun konnte, hörte er draußen im Flur laute Schreie.

»Hilfe! Hilfe! Hilfe! Bitte helft mir doch! Helft mir, ich hab mich verirrt!«

4

Die Schreie stammten von einem kleinen Jungen in einem Star-Wars-Pyjama, der mit den Fäusten wie wild an die Türen hämmerte. Das musste Avery Dixon sein, der angeblich zehn Jahre alt war, aber eher wie sechs oder höchstens sieben aussah. Ein Bein seiner Schlafanzughose war vom Schritt abwärts klatschnass und klebte ihm an der Haut.

»Helft mir, ich will nach Hause!«

Luke blickte sich um, weil er erwartete, dass jemand – eventuell in der Mehrzahl – angerannt kommen würde, aber nichts dergleichen geschah. Später wurde ihm klar, dass es im Institut völlig normal war, wenn ein Kind schreiend nach seinem Zuhause verlangte. Momentan aber wollte er den Jungen bloß zum Schweigen bringen, denn der war panisch und versetzte Luke ebenfalls in Panik.

Er ging auf ihn zu, kniete sich vor ihn hin und nahm ihn bei den Schultern. »He. Ganz ruhig, Kleiner.«