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Der Junge starrte Luke mit Augen an, die von weißen Ringen umgeben waren, aber Luke wusste nicht recht, ob er ihn wirklich sah. Die Haare standen ihm schweißnass vom Kopf ab; das Gesicht war tränennass, und auf der Oberlippe glänzte frischer Rotz.

»Wo ist Mama? Wo ist Daddy?«

Nur hörte sich das nicht nach Daddy an, sondern nach DAAAAAADY wie das Jaulen einer Luftschutzsirene. Der Junge stampfte mit den Füßen und schlug mit den Fäusten auf Lukes Schultern ein. Luke ließ ihn los, erhob sich, trat einen Schritt zurück und sah erschrocken, wie der Junge auf den Boden fiel und zu zappeln begann.

Gegenüber dem Poster, das einen TAG WIE IM PARADIES verkündete, ging die Tür auf, und Kalisha kam zum Vorschein, gekleidet in ein Batik-T-Shirt und überdimensionierte Basketballshorts. Sie stellte sich neben Luke und blickte auf den Neuankömmling hinunter, die Arme in die weitgehend inexistenten Hüften gestemmt. Nach einer Weile sah sie Luke an. »Ich hab zwar schon allerhand Wutanfälle erlebt, aber der da schießt den Vogel ab.«

Eine weitere Tür ging auf, und Helen Simms trat heraus, gekleidet – mehr oder weniger – in etwas, was man wohl einen Babydoll-Pyjama nannte. Sie hatte Hüften und noch andere interessante Merkmale.

»Hör auf, so zu glotzen, Lukey, und hilf mir ein bisschen«, sagte Kalisha. »Wenn der Kleine mir weiter so im Kopf herumbohrt, krieg ich Migräne.« Sie kniete sich hin, streckte die Hände nach dem Derwisch aus – dessen Worte sich inzwischen in ein wortloses Geheul verwandelt hatten–, zuckte aber zurück, als seine Faust auf ihren Unterarm prallte. »Scheiße, hilf mir doch endlich! Pack seine Hände!«

Luke kniete sich ebenfalls hin, versuchte zaghaft, die Hände des Jungen zu fassen, zog sich dann wieder zurück, bevor er beschloss, dass er vor dem gerade erschienenen Traum in Pink lieber kein Weichei sein wollte. Er packte den kleinen Jungen an den Ellbogen und drückte ihm die Arme seitlich an die Brust. Dabei spürte er dessen wild rasenden Herzschlag.

Kalisha beugte sich über den Jungen, nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und sah ihm in die Augen. Seine Schreie verstummten, und man hörte ihn nur noch hektisch atmen. Fasziniert starrte er Kalisha an, und plötzlich begriff Luke, was sie damit gemeint hatte, dass der Kleine ihr im Kopf herumbohrte.

»Der ist TP, stimmt’s? Genau wie du.«

Kalisha nickte. »Bloß dass er wesentlich stärker ist als ich oder jemand von den anderen TPs, die in meiner Zeit hier durchgekommen sind. Komm, schaffen wir ihn in mein Zimmer.«

»Darf ich mitkommen?«, fragte Helen.

»Klar doch, Süße«, sagte Kalisha. »Der Anblick wird unseren Lukey sicher freuen.«

Helen wurde rot. »Vielleicht sollte ich mir erst mal was anderes anziehen.«

»Mach, was du willst«, sagte Kalisha, dann wandte sie sich an den Kleinen: »Wie heißt du?«

»Avery.« Seine Stimme war vom Weinen und Brüllen ganz rau. »Avery Dixon.«

»Ich bin Kalisha. Wenn du willst, kannst du Sha zu mir sagen.«

»Hauptsache, du redest sie nicht mit Kumpel an«, fügte Luke hinzu.

5

Kalishas Zimmer war mädchenhafter, als Luke es angesichts ihrer toughen Redeweise erwartet hätte. Auf dem Bett lag eine rosa Tagesdecke, die Kissen waren mit Rüschen verziert. Auf der Kommode stand ein gerahmtes Bild von Martin Luther King.

Als sie sah, dass Luke zu dem Bild hinüberstarrte, lachte sie. »Eigentlich versuchen sie ja, alles so hinzukriegen wie bei uns zu Hause, aber der Typ, den ich eigentlich da stehen hatte, war ihnen wohl zu krass, deshalb haben sie ihn ausgetauscht.«

»Wer war’s denn?«

»Eldridge Cleaver. Schon mal von dem gehört?«

»Klar. Seele auf Eis. Gelesen habe ich das zwar noch nicht, aber ich hatte es mir vorgenommen.«

Sie hob die Augenbrauen. »Mann, du bist hier wirklich fehl am Platz.«

Schniefend machte sich Avery daran, aufs Bett zu steigen, aber sie ergriff ihn und zog ihn zurück, sanft, aber entschieden.

»Nix da, nicht mit der nassen Hose.« Sie wollte sie ihm ausziehen, aber er wich einen Schritt zurück und hielt sich schützend die Hände vor den Schritt.

Kalisha warf Luke einen Blick zu und hob die Schultern. Er tat dasselbe, dann hockte er sich vor Avery. »In welchem Zimmer bist du?«

Avery schüttelte nur den Kopf.

»Hast du die Tür aufgelassen?«

Diesmal nickte der Junge.

»Ich hole dir trockene Sachen«, sagte Luke. »Bleib schön hier bei Kalisha, okay?«

Das quittierte der Junge weder mit einem Kopfschütteln noch mit einem Nicken. Er starrte Luke nur erschöpft und verwirrt an, verzichtete jedoch glücklicherweise darauf, wieder eine Luftschutzsirene zu imitieren.

»Geh nur«, sagte Kalisha. »Ich kann ihn beruhigen, glaube ich.«

An der Tür tauchte Helen auf. Sie trug jetzt Jeans und war damit beschäftigt, ihr Wolljäckchen zuzuknöpfen. »Geht es ihm besser?«, fragte sie.

»Ein bisschen«, sagte Luke und trat auf den Flur. In die Richtung, die er mit Maureen gegangen war, um die Betten zu beziehen, führte eine Tröpfchenspur.

»Wo sind eigentlich die beiden anderen?«, fragte Helen. »Die müssen ja schlafen wie Tote.«

»Tun sie«, sagte Kalisha. »Geh doch mit Luke mit, Neue. Avery und ich begegnen uns jetzt mal im Geiste.«

6

»Der Kleine heißt Avery Dixon«, sagte Luke, während er mit Helen Simms in der offenen Tür von dessen Zimmer stand. Ganz in der Nähe ratterte der Eiswürfelspender vor sich hin. »Er ist schon zehn. Sieht nicht so aus, oder?«

Sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Sag mal, bist du etwa doch TP?«

»Nein.« Er betrachtete das Poster mit Tommy Pickles und die Actionfiguren auf der Kommode. »Ich war mit Maureen schon mal hier drin. Die ist eine von den Haushälterinnen. Ich hab ihr geholfen, das Bett zu machen. Sonst war das Zimmer schon für ihn bereit.«

Helen grinste süffisant. »Ach, das bist du also – ein kleiner Streber.«

Luke dachte an die Ohrfeige, die Tony ihm verpasst hatte, und fragte sich, ob Helen wohl ebenso behandelt werden würde. »Nein, aber Maureen ist nicht wie manche von den anderen. Wenn du nett zu ihr bist, ist sie nett zu dir.«

»Wie lange bist du denn schon hier, Luke?«

»Ich bin erst kurz vor euch gekommen.«

»Woher willst du dann wissen, wer nett ist und wer nicht?«

»Maureen ist in Ordnung, mehr will ich gar nicht sagen. Hilf mir mal, ein paar Anziehsachen rauszusuchen.«

Helen nahm eine Hose und eine Unterhose aus der Kommode (wobei sie nicht versäumte, auch die anderen Schubladen durchzuschnüffeln), dann gingen sie zu Kalishas Zimmer zurück. Auf dem Weg dorthin fragte Helen, ob man mit Luke schon einen von den Tests gemacht habe, von denen George ihr erzählt habe. Das nicht, sagte er, aber er zeigte ihr den Chip in seinem Ohr.

»Wehr dich nicht dagegen. Ich hab’s getan und eine gewischt bekommen.«

Sie blieb abrupt stehen. »Erzähl keinen Scheiß!«

Er drehte den Kopf, um ihr die Stelle an seiner Wange zu zeigen, wo zwei von Tonys Fingern leichte Blutergüsse hinterlassen hatten.

»Mir wischt niemand eine«, sagte Helen.

»Das ist eine Theorie, die du lieber nicht auf die Probe stellen solltest.«

Sie warf ihre zweifarbigen Haare zurück. »Meine Ohren sind schon gepierct, also ist so ein Chip keine große Sache.«

Kalisha saß auf ihrem Bett, Avery neben ihr, den Hintern auf einem zusammengefalteten Handtuch. Sie streichelte ihm die verschwitzten Haare, während er verträumt zu ihr hochblickte, als wäre sie Prinzessin Tiana. Helen warf Luke die Klamotten zu. Weil er das nicht erwartet hatte, ließ er die Unterhose fallen, die mit Bildern von Spider-Man in verschiedenen dynamischen Posen bedruckt war.