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»Ich hab kein Interesse dran, das Pimmelchen von dem Kleinen zu sehen«, sagte Helen. »Wenn ich aufwache, bin ich vielleicht wieder in meinem Zimmer, in meinem echten Zimmer, und das alles ist bloß ein Traum gewesen.«

»Viel Glück dabei«, sagte Kalisha.

Helen stolzierte davon. Luke hob Averys Unterhose gerade noch rechtzeitig auf, um ihren Hüftschwung in den ausgebleichten Jeans bewundern zu können.

»Geil, was?«, sagte Kalisha in ausdruckslosem Ton.

Luke spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss, als er ihr die Klamotten übergab. »Zugegeben, aber was ihre Persönlichkeit angeht, hat sie noch was aufzuholen.«

Damit wollte er Kalisha zum Lachen bringen – er mochte es, wenn sie lachte–, aber sie blickte traurig drein. »Das Rumzicken wird man ihr hier schnell austreiben. Bald wird sie sich automatisch ducken, wenn sie ’nen Typen in ’nem blauen Kittel sieht. Genau wie wir alle. Avery, du musst dich jetzt umziehen. Ich und Lukey drehen dir dabei den Rücken zu.«

Das taten sie, indem sie durch die offene Tür auf das Poster im Flur blickten, das einen Tag wie im Paradies verhieß. Hinter sich hörten sie es schniefen und rascheln. »Bin fertig«, sagte Avery schließlich. »Ihr könnt euch umdrehen.«

»Bring jetzt die nasse Hose ins Bad und häng sie über den Badewannenrand«, sagte Kalisha.

Avery machte sich ohne jede Widerrede auf den Weg. »Hab die Hose hingehängt, Sha«, sagte er, als er zurückgetrottet kam. Aus seiner Stimme war jede Spur von Zorn verschwunden. Jetzt hörte er sich verängstigt und erschöpft an.

»Gut gemacht. Jetzt darfst du wieder aufs Bett. Leg dich ruhig hin, das ist okay.«

Kalisha lehnte sich zurück, legte sich Averys Füße auf den Schoß und klopfte neben sich aufs Bett. Luke setzte sich hin und fragte Avery, ob es ihm jetzt besser gehe.

»Glaub schon.«

»Du weißt sogar, dass es dir besser geht«, sagte Kalisha und fing wieder an, die Haare des kleinen Jungen zu streicheln. Luke hatte irgendwie den Eindruck, dass sich zwischen den beiden eine Menge abspielte. Insiderkommunikation.

»Ach du Scheiße«, sagte Kalisha. »Erzähl ihm deinen Witz halt, wenn es sein muss, und schlaf dann ein, verdammt noch mal.«

»Du hast ein schlimmes Wort gesagt.«

»Habe ich wohl. Erzähl ihm jetzt den Witz.«

Avery sah Luke an. »Okay. Warum sieht ein Eskimo am hellen Tag seine Hand vor Augen nicht?«

Luke überlegte, ob er Avery erklären sollte, dass man inzwischen nicht mehr von Eskimos, sondern von Inuit und Yupik sprach, aber da es an diesem Ort eindeutig nicht um politische Korrektheit ging, sagte er nur: »Keine Ahnung.«

»Weil er Handschuhe anhat. Hast du kapiert?«

»Klar. Warum trinken Mäuse keinen Alkohol?«

»Weil sie bloß Wasser mögen?«

»Nein, weil sie Angst vor dem Kater haben. Schlaf jetzt.«

Avery wollte noch etwas sagen – vielleicht war ihm ein weiterer Witz eingefallen–, aber Kalisha wies ihn an, still zu sein. Dabei streichelte sie ihm weiter das Haar. Ihre Lippen bewegten sich. Averys Blick wurde trübe. Die Lider gingen zu, langsam wieder auf, dann wieder zu, um sich noch langsamer wieder zu heben. Beim nächsten Mal blieben sie unten.

»Hast du da gerade was gemacht?«, fragte Luke.

»Ich hab ihm ein Schlaflied vorgesungen, das meine Mama immer für mich gesungen hat.« Das sagte sie ganz leise, doch in ihrer Stimme lag unverkennbar ein freudiges Staunen. »Eigentlich bin ich total unmusikalisch, aber wenn es direkt von einem Kopf in den anderen geht, kommt es auf die Melodie offenbar nicht an.«

»Ich hab den Eindruck, dass er nicht besonders intelligent ist«, sagte Luke.

Sie warf ihm einen langen Blick zu, bei dem ihm wieder ebenso heiß im Gesicht wurde wie zuvor, als er auf den Hintern von Helen gestarrt hatte und dabei erwischt worden war. »Für dich ist wahrscheinlich die ganze Welt nicht besonders intelligent, hm?«

»Nein, so bin ich nicht«, protestierte Luke. »Ich hab bloß gemeint…«

»Nur die Ruhe. Ich weiß, was du meinst, aber es geht nicht darum, dass er nicht genügend Hirn hätte. Jedenfalls nicht so richtig. Wer so stark TP ist wie er, hat womöglich eher Nachteile. Normalerweise weißt du ja nicht, was andere Leute denken, und daher musst du früh lernen, wie man… hm…«

»Nonverbale Hinweise auffängt?«

»Ja, genau. Normale Leute müssen sich durchschlagen, indem sie sich den Gesichtsausdruck von anderen anschauen und deren Tonfall beurteilen, nicht nur das, was gesagt wird. Das ist so, wie wenn man Zähne bekommt, damit man was Hartes kauen kann. Der kleine Scheißer hier ist wie Klopfer in diesem Disneyfilm. Die Zähne, die er hat, taugen mehr oder weniger bloß zum Grasfressen. Leuchtet dir das irgendwie ein?«

Luke sagte, das tue es.

Kalisha seufzte. »So was wie das Institut ist ein übler Ort für Klopfer, aber vielleicht spielt es keine Rolle, weil wir doch alle irgendwann in den Hinterbau kommen.«

»Wie viel TP hat er denn – verglichen mit, sagen wir mal, dir?«

»Wesentlich mehr. Es gibt so einen Stoff, den sie messen – BDNF. Das hab ich einmal auf dem Laptop von Dr. Hendricks gesehen, und ich hab den Eindruck, dass es total wichtig ist, vielleicht sogar am allerwichtigsten. Du bist doch so ein Intelligenzmonster, weißt du vielleicht, was das ist?«

Das wusste Luke nicht, aber er hatte vor, es herauszubekommen. Falls man ihm nicht vorher seinen Computer wegnahm.

»Was immer es ist, der Kleine muss extrem viel davon haben. Ich hab ja mit ihm kommuniziert. Das war echte Telepathie!«

»Aber du bist doch bestimmt schon auf andere TPs getroffen, auch wenn das seltener ist als TK. Vielleicht nicht draußen, aber doch bestimmt hier drin.«

»Du kapierst es nicht. Kannst du vielleicht auch gar nicht. Für mich ist es so, wie wenn ich Musik aus ’ner ganz leise gestellten Stereoanlage höre oder wenn ich Leute draußen auf der Veranda reden höre, während ich in der Küche stehe und die Spülmaschine läuft. Manchmal ist es überhaupt nicht da, fällt einfach komplett weg. Bei dem Kleinen ist es so krass, wie man’s in Science-Fiction-Filmen sieht. Du musst dich um ihn kümmern, wenn ich nicht mehr da bin, Luke. Der Kleine ist echt wie Klopfer, und es wundert mich nicht im Geringsten, dass sein Verhalten nicht zu seinem Alter passt. Bisher hat er es leicht gehabt, aber damit ist es vorbei.«

Wenn ich nicht mehr da bin überlagerte alles andere. »Du… hat irgendjemand zu dir gesagt, dass du bald in den Hinterbau kommst? Maureen vielleicht?«

»Das ist gar nicht nötig. Gestern haben sie mit mir keinen einzigen von ihren schwachsinnigen Tests gemacht. Spritzen hat man mir auch keine verabreicht. Das ist ein sicheres Zeichen. Nick kommt auch bald rüber. George und Iris sind eventuell noch ein bisschen länger hier.«

Sie drückte Luke sanft den Nacken, was wieder das bekannte Kribbeln hervorrief.

»Ich will jetzt mal einen Moment deine Schwester sein, Luke, deine Seelenschwester, also hör gut zu. Wenn dich an diesem Punkgirl da drüben bloß interessiert, wie sie beim Gehen mit den Hüften wackelt, lass es dabei bewenden. Es ist schlecht, wenn man sich hier drin zu sehr an jemand hängt. Wenn der dann wegkommt, fühlt man sich beschissen, und irgendwann kommen alle weg. Aber um Avery musst du dich so lange kümmern, wie du kannst. Wenn ich mir vorstelle, dass jemand wie Tony oder Zeke oder Winona, dieses gemeine Stück, ihn schlägt, könnte ich heulen.«

»Ich tue, was ich kann, aber ich hoffe, dass du noch lange dableibst«, sagte Luke. »Ich würde dich vermissen.«

»Danke, aber das ist genau das, worauf ich rauswollte.«