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Eine Weile saßen sie schweigend da. Luke dachte, er würde wohl bald gehen müssen, aber das wollte er noch nicht. Er war nicht in der Stimmung, allein zu sein.

»Ich glaube, ich kann Maureen helfen.« Das sagte er mit so leiser Stimme, dass sich seine Lippen kaum bewegten. »Bei ihren Schulden. Aber dazu müsste ich mit ihr reden.«

Kalisha riss die Augen auf und strahlte. »Echt? Das wäre super.« Sie brachte die Lippen so nah an sein Ohr, dass ihn ein Zittern überlief. Er hatte Angst, auf seine Arme zu blicken, weil sich da vielleicht eine Gänsehaut zeigte. »Aber tu’s bald. In ein oder zwei Tagen beginnt ihre freie Woche.« Jetzt legte sie ihm die Hand – o Gott! – auch noch weit oben auf den Oberschenkel und damit auf einen Bereich, den Lukes Mutter inzwischen mied. »Wenn sie wiederkommt, arbeitet sie drei Wochen woanders. Man sieht sie zwar auf dem Flur oder im Aufenthaltsraum, aber das ist alles. Sie redet nicht mal da mit einem, wo man nicht belauscht wird, also ist sie dann bestimmt im Hinterbau.«

Sie löste die Lippen von seinem Ohr und nahm die Hand von seinem Oberschenkel. Luke wünschte sich inbrünstig, dass sie ihm bald weitere Geheimnisse mitzuteilen hatte.

»Geh jetzt wieder auf dein Zimmer«, sagte sie. Das leichte Glitzern in ihren Augen ließ ihn vermuten, dass ihr die Wirkung, die sie auf ihn hatte, durchaus bewusst war. »Versuch, noch ein bisschen zu schlafen.«

7

Luke erwachte aus einem tiefen, traumlosen Schlaf, weil es laut an der Tür klopfte. Er setzte sich auf, sah sich verwirrt um und überlegte, ob er wohl an einem Schultag verschlafen hatte.

Die Tür ging auf, und ein lächelndes Gesicht spähte herein. Es war Gladys, die Frau, die ihn zum Chippen gebracht hatte. Die ihm erklärt hatte, er sei hier, um zu dienen. »Kuckuck!«, trällerte sie. »Raus aus den Federn! Du hast das Frühstück verpasst, aber ich hab dir Orangensaft mitgebracht. Den kannst du unterwegs trinken. Er ist frisch gepresst!«

Luke sah das grüne Lichtchen an seinem neuen Laptop. Der hatte sich zwar in den Ruhezustand versetzt, aber wenn Gladys hereinkam und auf irgendeine Taste tippte, um nachzuschauen, wo er gesurft hatte (das war ihr zuzutrauen), würde sie den Unsichtbaren von H. G. Wells mit seinem bandagierten Kopf und seiner dunklen Schutzbrille sehen. Zwar würde sie nicht wissen, was genau sie da vor sich hatte, und es womöglich für irgendeine Science-Fiction- oder Mystery-Website halten, aber sie würde wahrscheinlich Bericht erstatten. Und dann würde man jemand auf die Sache ansetzen, der cleverer war als sie. Jemand, der dafür bezahlt wurde, neugierig zu sein.

»Hab ich eine Minute Zeit, meine Hose anzuziehen?«

»Dreißig Sekunden. Der O-Saft soll ja nicht warm werden, oder?« Sie zwinkerte ihm schalkhaft zu und schloss die Tür.

Luke sprang aus dem Bett, schlüpfte in seine Jeans, griff sich ein T-Shirt, weckte den Laptop auf und warf einen Blick auf die Uhr. Erstaunt sah er, dass es schon neun war. So lange schlief er sonst nie. Einen Moment fragte er sich, ob man ihm wohl etwas ins Essen getan hatte, aber dann wäre er sicher nicht mitten in der Nacht aufgewacht.

Es ist der Schock, dachte er. Ich versuche immer noch, das Ganze zu verarbeiten – es in den Kopf zu kriegen.

Er fuhr den Computer herunter, wobei ihm klar war, dass seine Bemühungen, das Bild von Mr. Griffin zu verstecken, völlig sinnlos waren, wenn man seine Suchanfragen überwachte. Und wenn man seinen Computer spiegelte, wusste man bereits, dass er sich Zugang zur New York Times verschafft hatte. Sobald er jedoch so zu denken anfing, war alles vergeblich. Was wahrscheinlich genau die Denkweise war, zu der die Handlanger von Mrs. Sigsby ihn bringen wollten – ihn und alle anderen Kinder, die hier gefangen gehalten wurden.

Wenn sie Bescheid wüssten, hätten sie mir den Computer bereits weggenommen, sagte er sich. Und wenn sie das Ding spiegeln würden, müsste ihnen dann nicht auffallen, dass auf dem Begrüßungsbildschirm ein falscher Name steht?

Das klang einleuchtend, aber vielleicht wollten sie ihn nur an der langen Leine lassen. Der Gedanke war zwar regelrecht paranoid, aber das entsprach ja der Situation.

Als Gladys wieder den Kopf durch die Tür steckte, saß er auf dem Bett und zog sich seine Sneakers an. »Gut gemacht!«, rief sie, als wäre Luke ein Dreijähriger, der es gerade zum ersten Mal geschafft hatte, sich allein anzuziehen. Luke mochte sie immer weniger, aber als sie ihm den Saft gab, stürzte er ihn hinunter.

8

Als Gladys diesmal ihre Karte vor den Scanner hielt, befahl sie dem Aufzug, auf Ebene C zu fahren. »Meine Güte, was für ein wunderschöner Tag!«, rief sie, während die Kabine nach unten fuhr. Offenbar war das ihr üblicher Gesprächseinstieg.

Luke warf einen Blick auf ihre Hände. »Ich sehe, dass Sie einen Ehering tragen. Haben Sie Kinder, Gladys?«

Ihr Lächeln wurde vorsichtig. »Das ist meine Privatangelegenheit.«

»Ich hab mich bloß gefragt, wie es Ihnen gefallen würde, wenn Ihre Kinder an einem solchen Ort eingesperrt wären.«

»C«, verkündete die leise Frauenstimme. »Das ist Ebene C.«

Als Gladys ihn hinausgeleitete, lag kein Lächeln auf ihrem Gesicht, und sie hielt seinen Arm ein bisschen fester als absolut notwendig.

»Außerdem hab ich mich gefragt, wie Sie mit dem, was Sie hier tun, leben können. Aber das ist wohl ein bisschen zu persönlich, hm?«

»Das reicht, Luke. Ich hab dir Orangensaft mitgebracht. Das hätte ich nicht tun müssen.«

»Was würden Sie eigentlich zu Ihren Kindern sagen, wenn jemand herausbekäme, was hier vor sich geht? Wenn es zum Beispiel in den Nachrichten käme. Wie würden Sie es denen erklären?«

Sie ging schneller und schleppte ihn beinahe mit, aber ihr Gesicht drückte keinerlei Ärger oder Zorn aus; wäre es anders gewesen, hätte er zumindest die zweifelhafte Befriedigung gehabt, zu ihr durchgedrungen zu sein. Aber nein. Ihr Gesicht war völlig leer. Es war ein Puppengesicht.

Vor Raum C17 blieben sie stehen. Die Regale waren vollgestellt mit medizinischen Geräten und Computern. In der Mitte stand ein gepolsterter Sessel, der wie ein Kinositz aussah; dahinter war auf einem Stahlpfosten eine Art Projektor montiert. Wenigstens waren die Armlehnen des Sessels nicht mit Gurten versehen.

Ein MTA erwartete die beiden. Laut dem Namensschild auf seinem blauen Kittel hieß er ZEKE. Den Namen kannte Luke schon. Maureen hatte gesagt, Zeke gehöre zu denen, die richtig gemein seien.

»Hallo, Luke!«, sagte Zeke. »Alles easy heute?«

Luke zuckte die Acheln, weil er nicht wusste, was er dazu sagen sollte.

»Du wirst doch keine Probleme machen, oder? Darauf will ich hinaus, Kumpel.«

»Nein. Keine Probleme.«

»Schön zu hören.«

Zeke öffnete eine mit einer blauen Flüssigkeit gefüllte Flasche. Der entstieg ein scharfer Alkoholgeruch, und im nächsten Moment hatte Zeke ein Thermometer in der Hand, das mindestens dreißig Zentimeter lang zu sein schien. Das konnte doch bestimmt nicht…

»Lass die Hosen runter, und beug dich über den Sessel, Luke. Die Unterarme auf die Sitzfläche.«

»Nicht wenn…«

Nicht wenn Gladys da ist, wollte er sagen, aber die Tür von C17 war zu. Gladys war verschwunden. Vielleicht, damit ich mich nicht schäme, dachte Luke, aber wahrscheinlich eher, weil sie genug von meinem Gelaber hatte. Was ihn aufgemuntert hätte, wäre da nicht der gläserne Stab gewesen, der bald – da war er sich sicher – die bisher unberührten Tiefen seiner Anatomie erforschen würde. Mit so einem Ding maß der Tierarzt wahrscheinlich die Temperatur bei Pferden.

»Nicht wenn was?« Zeke schwenkte das Thermometer hin und her wie den Stab eines Tambourmajors. »Nicht wenn ich das da nehme? Tut mir leid, Kumpel, das muss sein. Anordnung von oben, weißt du?«