Выбрать главу

»Fünf-Sekunden-Regel.«

»Laut dem National Health Service – der ist in England – ist die Fünf-Sekunden-Regel ein Mythos. Kompletter Schwachsinn.«

»Ist man als Genie eigentlich verpflichtet, allen anderen Leuten ihre Illusionen zu nehmen?«

»Nein, ich hab bloß…«

Sie lächelte und stand auf. »War ein Scherz, Luke. Die Windpockentussi hat dich bloß veräppelt. Wie geht’s dir?«

»Ganz okay.«

»Hast du das Thermometer in den Hintern gekriegt?«

»Ja. Reden wir nicht darüber.«

»Alles klar. Willst du bis zum Mittagessen Cribbage spielen? Wenn du’s noch nicht kennst, kann ich’s dir beibringen.«

»Ach, das kenne ich schon, aber ich hab jetzt keine Lust. Ich glaube, ich gehe eine Weile in mein Zimmer.«

»Um über deine Lage nachzudenken?«

»So in der Richtung. Wir sehen uns beim Essen.«

»Wenn es dingdong macht«, sagte sie. »Alles klar. Kopf hoch, du Held! Klatsch ab!«

Sie hob die Hand, und Luke sah etwas zwischen ihrem Daumen und ihrem Zeigefinger stecken. Als er seine weiße Handfläche an ihre braune drückte, glitt ein zusammengefalteter Zettel von ihrer in seine Hand.

»Bis nachher, Alter.« Damit machte sie sich auf den Weg zum Spielplatz.

Sobald Luke in seinem Zimmer war, legte er sich aufs Bett, drehte sich zur Wand und faltete den Zettel auseinander. Die Handschrift von Kalisha war ebenso winzig wie säuberlich.

Triff dich so bald wie möglich am Eiswürfelspender beim Zimmer von Avery mit Maureen. Spül das hier im Klo runter.

Er zerknüllte den Zettel, ging ins Bad und ließ das Kügelchen in die WC-Schüssel fallen, während er die Hose herunterließ. Dabei kam er sich einerseits so lächerlich vor wie ein kleines Kind beim Spionagespielen, aber andererseits kam er sich überhaupt nicht lächerlich vor. Er hätte liebend gern geglaubt, dass es wenigstens in seinem Scheißhaus keine Überwachungskamera gab, aber so richtig glaubte er das nicht.

Der Eiswürfelspender. Wo Maureen gestern mit ihm gesprochen hatte. Das war interessant. Laut Kalisha gab es hier im Vorderbau mehrere Orte, wo die Audioüberwachung schlecht oder gar nicht funktionierte, aber Maureen schien diese Stelle zu bevorzugen. Vielleicht weil sich dort keine Kamera befand. Vielleicht fühlte sie sich dort auch am sichersten, weil der Spender so laut ratterte. Und vielleicht zog er selbst zu viele Schlüsse aus zu wenigen Informationen.

Bevor er sich mit Maureen traf, wollte er auf die Website der Star Tribune gehen und setzte sich an seinen Computer. Er kam bis zu Mr. Griffin, hielt dann jedoch inne. Wollte er wirklich Bescheid wissen? Um womöglich herauszufinden, dass diese Dreckschweine, diese Monster, ihn anlogen und dass seine Eltern tot waren? Wenn er auf die Website der Tribune ging, würde er sich damit verhalten wie jemand, der beim Roulette seine ganzen Ersparnisse auf eine einzigen Kugelwurf setzte.

Jetzt nicht, beschloss er. Vielleicht wenn die Erniedrigung durch das Thermometer etwas länger hinter ihm lag, aber jetzt nicht. Wenn das feige von ihm war, dann war es das eben. Er schaltete den Computer aus und machte sich auf den Weg in den anderen Trakt. In der Nähe des Eiswürfelspenders war Maureen zwar nicht zu sehen, aber ihr Wäschewagen stand in der Mitte des Flurs, den Luke für sich als Averys Flur bezeichnete, und er hörte sie etwas über Regentropfen singen, so viele Regentropfen. Als er dem Klang ihrer Stimme folgte, kam er zu einem Zimmer, wo sie das Bett machte. An der Wand hingen Wrestlingposter mit Fleischbergen in Elastan-Shorts. Sie sahen allesamt so fies aus, als würden sie Nägel kauen und Heftklammern ausspucken.

»Hi, Maureen, wie geht es Ihnen?«

»Ganz gut«, sagte sie. »Der Rücken tut mir ein bisschen weh, aber ich hab ja mein Ibuprofen.«

»Soll ich Ihnen helfen?«

»Danke, aber das ist das letzte Zimmer, und ich bin gleich fertig. Zwei Mädchen, ein Junge, die bald eintreffen werden. Das ist das Zimmer von dem Jungen.« Sie deutete auf die Poster und lachte. »Was du dir sicher schon gedacht hast.«

»Tja, ich wollte mir ein paar Eiswürfel holen, aber in meinem Zimmer ist kein Kübel.«

»Die sind in einem Schrank neben dem Spender.« Sie richtete sich auf, presste sich die Hände ans Kreuz und schnitt eine Grimasse. Luke hörte ihre Wirbelsäule knacken. »Ach, jetzt geht’s mir wesentlich besser. Komm, ich zeig dir, wo die Kübel sind.«

»Bloß wenn es keine Mühe macht.«

»Überhaupt nicht. Komm mit. Wenn du willst, kannst du meinen Wagen schieben.«

Während sie durch den Flur gingen, dachte Luke an seine Recherchen zu Maureens Problem. Auffällig war vor allem eine erschreckende Statistik: Zusammengenommen hatten die Bürger der Vereinigten Staaten mehr als zwölf Billionen Dollar Schulden. Geld, das ausgegeben worden war, ohne verdient worden zu sein; es war ein reines Versprechen. Ein Paradox, das nur ein Buchhalter lieben konnte. Ein großer Teil dieser Schulden bestand zwar aus Hypotheken auf Wohneigentum und Firmen, aber eine beträchtliche Menge hatte mit den kleinen Plastikkarten zu tun, die alle in ihrem Portemonnaie stecken hatten – mit dem Oxycodon des amerikanischen Verbrauchers.

Maureen öffnete einen kleinen Schrank rechts vom Eiswürfelspender. »Kannst du selbst einen rausholen, damit ich mich nicht bücken muss? Irgendein rücksichtsloser Mensch hat die verdammten Kübel ganz nach hinten geschoben.«

Luke griff in den Schrank. »Kalisha hat mir von Ihrem Problem mit den Kreditkarten erzählt«, sagte er dabei mit leiser Stimme. »Ich glaube, ich weiß, wie man es lösen kann, aber es hängt unter anderem davon ab, wo Sie behördlich angemeldet sind.«

»Behördlich angemeldet?«

»In welchem Staat wohnen Sie?«

»Ich…« Sie sah sich verstohlen um. »Wir dürfen den Insassen keine persönlichen Sachen verraten. Wenn jemand was erfährt, verliere ich meinen Job. Und nicht nur den. Kann ich dir vertrauen, Luke?«

»Ich werde bestimmt den Mund halten.«

»Ich wohne drüben in Vermont. In Burlington. Da fahre ich in meiner freien Woche hin.« Indem sie ihm das erzählte, schien sich etwas in ihr zu lösen. Sie sprach zwar leise weiter, aber die Worte purzelten nur so aus ihr heraus. »Wenn ich hier rauskomme, muss ich erst mal haufenweise verflixte Nachrichten von meinem Handy löschen. Und wenn ich zu Hause bin, vom Anrufbeantworter. Du weißt schon, der vom Festnetz. Wenn der Anrufbeantworter voll ist, hinterlassen sie Briefe – Warnungen, Drohungen – im Briefkasten oder unter der Tür. Mein Auto können sie von mir aus jederzeit einkassieren, das ist ’ne richtige Schrottmühle, aber jetzt reden sie von meinem Haus! Das ist abgezahlt, und zwar bestimmt nicht wegen meinem Mann. Ich hab die Hypotheken mit meinem Einstiegsbonus abgelöst, als ich hier angefangen hab, deshalb hab ich ja überhaupt hier angefangen, aber wenn sie mir das Haus wegnehmen, kriege ich nicht den richtigen Wert, wie nennt man den noch mal…«

»Den Marktwert«, flüsterte Luke.

»Genau den.« In ihre bleichen Wangen war Röte gekrochen, ob aus Scham oder Wut, war Luke nicht klar. »Und sobald sie das Haus haben, wollen sie sicher auch das, was ich zurückgelegt hab, und dabei ist das nicht für mich! Es ist nicht für mich, aber sie werden es mir trotzdem wegnehmen. Sagen sie jedenfalls.«

»Hat er denn so viel Schulden gemacht?« Luke war verblüfft. Dieser Typ musste mit Geld nur so um sich geworfen haben.

»Ja!«

»Nicht so laut!« Luke hielt den Plastikkübel mit einer Hand, während er mit der anderen den Eiswürfelspender öffnete. »Gut, dass Sie in Vermont wohnen. Das ist ein Staat, in dem es keine Gütergemeinschaft gibt.«

»Was bedeutet das?«

Etwas, wovon die Leute nichts wissen sollen, dachte Luke. Es gibt so viel, was man nicht wissen soll. Sobald man in der Falle sitzt, soll man darin stecken bleiben. Er griff nach der Plastikschaufel, die innen an der Tür des Spenders steckte, und tat so, als würde er zusammengebackene Eiswürfel voneinander lösen. »Die Kreditkarten, die er verwendet hat, waren die auf seinen Namen ausgestellt oder auf Ihren?«