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Mit wütendem Gebrüll wollte der Neue aufstehen. Bevor ihm das gelang, trat Nicky auf ihn zu und kickte ihn in den Oberschenkel. Mit aller Kraft. Der Neue schrie auf, ließ sich auf den Rücken fallen, umklammerte sein Bein und zog die Knie zur Brust.

»Scheiße, hört doch auf!«, rief Iris. »Haben wir nicht schon genug Probleme?«

Der alte Luke hätte wohl zugestimmt; der neue Luke – der Luke im Institut – tat das nicht. »Er hat angefangen«, sagte er. »Und vielleicht hat er’s gebraucht.«

»Ich mach euch fertig!«, schluchzte der Neue. »Ich mach euch alle fertig, euch mit euren schmutzigen Tricks!« Sein Gesicht hatte eine erschreckend dunkelrote Färbung angenommen. Luke fragte sich, ob ein übergewichtiger Sechzehnjähriger wohl einen Schlaganfall erleiden konnte, und stellte – beängstigend, aber wahr – fest, dass ihm das völlig am Arsch vorbeiging.

Nicky ließ sich auf ein Knie nieder. »Einen Scheiß machst du«, sagte er. »Und jetzt hör mir mal gut zu, Fettsack. Dein Problem sind nicht wir. Dein Problem sind die da.«

Luke blickte sich um und sah drei Pfleger Schulter an Schulter vor der Tür zum Aufenthaltsraum stehen: Joe, Hadad und Gladys. Hadad wirkte nicht mehr besonders freundlich, und das künstliche Lächeln von Gladys war verschwunden. In der Hand hielten alle drei schwarze Dinger, aus denen Drähte herausragten. Vorläufig griffen sie noch nicht ein, waren jedoch bereit dazu. Weil ihr nicht zulasst, dass eure Versuchskaninchen sich gegenseitig wehtun, dachte Luke. Da habt ihr was dagegen. Versuchskaninchen sind wertvoll.

»Hilf mir mal mit diesem Volltrottel, Luke«, sagte Nicky.

Luke nahm einen Arm des Neuen und legte ihn sich um die Schultern, Nicky tat dasselbe mit dem anderen Arm. Die Haut des Kleiderschranks war erhitzt und ölig vor Schweiß. Mit zusammengebissenen Zähnen rang er nach Atem. Gemeinsam hievten Luke und Nicky ihn auf die Beine.

»Nicky?«, rief Joe. »Alles in Ordnung? Ist euer Streit vorüber?«

»Absolut«, sagte Nicky.

»Das will ich auch hoffen«, sagte Hadad und ging mit Gladys wieder hinein. Joe blieb stehen, wo er war, in der Hand weiterhin das schwarze Ding.

»Alles ist gut«, sagte Kalisha. »Es war kein echter Streit, bloß eine kleine…«

»Meinungsverschiedenheit«, sagte Helen.

»Er hat’s nicht bös gemeint«, sagte Iris. »Er war bloß durcheinander.« In ihrer Stimme lag echte Freundlichkeit. Luke schämte sich ein bisschen, weil er so befriedigt gewesen war, als Nicky dem Neuen ans Bein getreten hatte.

»Ich muss kotzen«, verkündete der Neue.

»Nicht aufs Trampolin, das kommt nicht infrage«, sagte Nicky. »Das benutzen wir nämlich. Komm, Luke. Hilf mir, ihn zum Zaun rüberzuschaffen.«

Der Neue machte Würggeräusche, während sein ansehnlicher Bauch sich hob und senkte. Luke und Nicky führten ihn zu dem Zaun, der den Spielplatz vom Wald trennte. Sie erreichten ihn gerade noch rechtzeitig. Der Neue legte das Gesicht an den Maschendraht und spuckte die letzten Reste dessen, was er in Freiheit zu sich genommen hatte, durch die Lücken.

»Iiih«, machte Helen. »Da hat jemand Maisbrei mit Sahne gefuttert. Widerlich.«

»Geht’s besser?«, fragte Nicky.

Der Neue nickte.

»Fertig?«

Der Neue schüttelte den Kopf und erbrach sich noch einmal, nur weniger heftig. »Ich glaub…« Er räusperte sich, wobei ihm weiterer Glibber aus dem Mund spritzte.

»Ach du Schande«, sagte Nicky und wischte sich die Wange ab. »Hast du vielleicht ein Handtuch dabei?«

»Ich glaub, ich kippe um.«

»Das glaub ich nicht«, sagte Luke. Ganz sicher war er sich da nicht, hielt es jedoch für am besten, positiv zu bleiben. »Komm mal hier rüber in den Schatten.«

Gemeinsam schafften sie den Neuen zum nächsten Picknicktisch. Kalisha setzte sich neben ihn und forderte ihn auf, den Kopf zu senken. Was er ohne Widerrede tat.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Nicky.

»Harry Cross.« Die Aggressivität war von ihm gewichen. Er hörte sich erschöpft und gedemütigt an. »Ich bin aus Selma. Das ist in Alabama. Hab keinen Schimmer, wie ich hier gelandet bin und was hier läuft. Absolut keinen blassen Schimmer.«

»Manches können wir dir schon erklären, aber du musst so ’n Scheiß wie vorhin bleiben lassen«, sagte Luke. »Reiß dich zusammen. Es ist hier schon schlimm genug, ohne dass wir uns gegenseitig verkloppen.«

»Und du musst dich bei Avery entschuldigen«, sagte George. Jetzt hörte er sich überhaupt nicht wie der Klassenclown an. »Das ist das Erste.«

»Ist schon okay«, sagte Avery. »Mir ist ja nichts passiert.«

Kalisha achtete nicht auf ihn. »Entschuldige dich!«

Harry Cross hob den Kopf und fuhr sich mit der Hand über sein gerötetes, einfältiges Gesicht. »Tut mir leid, dass ich dich umgestoßen hab, Kleiner.« Er ließ den Blick in die Runde schweifen. »Okay?«

»Halb okay.« Luke deutete auf Kalisha. »Bei der auch.«

Harry stieß einen Seufzer aus. »Tut mir leid, du, wie immer du auch heißt.«

»Ich heiße Kalisha. Falls wir Freunde werden sollten, was mir momentan nicht gerade wahrscheinlich vorkommt, kannst du mich Sha nennen.«

»Hauptsache, du sagst nicht Kumpel zu ihr«, sagte Luke. George lachte und schlug ihm auf den Rücken.

»Von mir aus«, murmelte Harry. Er wischte sich etwas vom Kinn.

»Nachdem die Aufregung jetzt vorüber ist«, sagte Nicky, »können wir ja das verdammte Badmintonspiel be…«

»Hallo, ihr zwei«, sagte Iris. »Wollt ihr nicht mal hier rüberkommen?«

Luke blickte sich um. Joe war verschwunden, und an seiner Stelle standen dort zwei kleine, blonde Mädchen. Sie hielten sich an der Hand und hatten den gleichen entsetzten Ausdruck im Gesicht. Überhaupt war alles an ihnen gleich, mit Ausnahme ihrer T-Shirts. Das eine war grün, das andere rot. Luke musste an Dr. Seuss denken: Ding 1 und Ding 2.

»Kommt nur her«, sagte Kalisha. »Alles ist gut. Der Zoff ist vorüber.«

Wenn das nur wahr wäre, dachte Luke.

13

Am selben Nachmittag saß Luke um Viertel nach vier in seinem Zimmer und informierte sich über Anwälte in Vermont, die sich speziell mit Entschuldung beschäftigten. Bisher hatte ihn noch niemand gefragt, weshalb er sich derart für ausgerechnet dieses Thema interessierte. Auch nach dem Unsichtbaren von H. G. Wells hatte sich niemand erkundigt. Wahrscheinlich hätte er testen können, ob er überwacht wurde – zum Beispiel, indem er mit Google nach Methoden suchte, sich umzubringen–, aber das wäre idiotisch gewesen. Wieso sollte man schlafende Hunde wecken? Und da es keine großen Auswirkungen auf das Leben hatte, das er jetzt führte, war es wohl besser, darüber nicht Bescheid zu wissen.

Es klopfte resolut an der Tür, dann ging sie auf, bevor er herein rufen konnte. Im Zimmer stand eine Pflegerin, groß und dunkelhaarig. Das Namensschildchen auf ihrem rosa Kittel identifizierte sie als PRISCILLA.

»Die Sache mit den Augen, stimmt’s?«, sagte Luke und schaltete den Laptop aus.

»Genau. Gehen wir.« Kein Lächeln, kein vergnügtes Trällern. Nach Gladys empfand Luke das als Erleichterung.

Gemeinsam gingen sie zum Aufzug und fuhren hinunter zu Ebene C.

»Wie weit in den Untergrund geht es hier eigentlich?«, fragte Luke.

Priscilla warf ihm einen kurzen Blick zu. »Geht dich nichts an.«

»Ich wollte mich bloß ein bisschen unter…«

»Lass das. Halt einfach den Mund.«

Luke hielt den Mund.

Im guten alten Raum C17 angelangt, fand Luke nicht Zeke vor, sondern einen MTA, auf dessen Schildchen BRANDON stand. Anwesend waren außerdem zwei Anzugträger, der eine mit einem I-Pad, der andere mit einem Klemmbrett. Da sie keine Namensschildchen trugen, handelte es sich offenbar um Ärzte. Der eine war extrem groß und hatte eine Wampe, mit der er die von Harry Cross problemlos in den Schatten stellte. Er trat auf Luke zu und bot ihm die Hand.