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»Hallo, Luke. Ich bin Dr. Hendricks und leite die medizinischen Maßnahmen.«

Luke betrachtete die ausgestreckte Hand und spürte keinerlei Drang, sie zu ergreifen. Er lernte hier allerhand neue Verhaltensweisen, was interessant war, wenn auch auf ziemlich fürchterliche Weise.

Dr. Hendricks stieß ein merkwürdig wieherndes Lachen aus, bei dem er halb aus- und halb einatmete. »Schon in Ordnung, absolut in Ordnung. Das ist Dr. Evans, der Leiter der ophthalmologischen Maßnahmen.« Worauf er wieder wieherte, weshalb Luke annahm, dass es sich bei dem Ausdruck ophthalmologische Maßnahmen um irgendeinen Ärztewitz handelte.

Evans, ein klein gewachsener Mann mit struppigem Schnurrbart, lachte nicht darüber. Er lächelte nicht einmal und bot Luke auch nicht die Hand. »Du bist also einer von unseren neuen Rekruten. Willkommen. Setz dich, bitte.«

Luke gehorchte. Sich auf den Sessel zu setzen war eindeutig besser, als sich darüber zu beugen und den nackten Hintern in die Luft zu recken. Außerdem war er sich ziemlich sicher, worum es sich handelte; beim Augenarzt war er nämlich schon gewesen. In Filmen trug das nerdige Wunderkind immer eine dicke Brille, aber Lukes Sehvermögen war ausgezeichnet, zumindest bisher. Deshalb war er einigermaßen entspannt, bis Hendricks mit einer Spritze auf ihn zutrat. Als er die sah, rutschte ihm das Herz in die Hose.

»Keine Sorge, das ist wieder nur ein kleiner Einstich.« Als Hendricks diesmal wieherte, entblößte er seine vorstehenden Zähne. »Hier kriegt man einfach viele Spritzen, genau wie beim Militär.«

»Klar, weil ich zum Dienst eingezogen worden bin«, sagte Luke.

»Richtig, völlig richtig. Halt still.«

Luke nahm die Injektion hin, ohne zu protestieren. Diesmal spürte er keine Hitze, doch dann geschah etwas anderes. Etwas Schlimmes. Als Priscilla sich über ihn beugte, um ihm ein durchsichtiges Pflaster auf die Einstichstelle zu kleben, fing er zu würgen an. »Ich kann nicht…« Er wollte schlucken sagen, aber das gelang ihm nicht. Seine Kehle verkrampfte sich.

»Alles in Ordnung«, sagte Hendricks. »Das geht vorüber.« Was sich gut anhörte, doch nun näherte sich der andere Arzt mit einem Tubus, den er Luke offensichtlich in den Rachen rammen wollte, falls das nötig wurde. Hendricks legte seinem Kollegen eine Hand auf die Schulter. »Lassen Sie ihm ein paar Sekunden Zeit.«

Luke starrte die beiden verzweifelt an und spürte, wie ihm der Speichel am Kinn herunterrann. Er war sich sicher, dass dies die letzten Gesichter waren, die er zu sehen bekam… aber dann entkrampfte seine Kehle sich wieder. Gierig holte er tief Luft.

»Siehst du?«, sagte Hendricks. »Alles prima. Sie müssen nicht intubieren, Jim.«

»Was… was haben Sie mit mir gemacht?«

»Nicht das Geringste. Es geht dir bestens.«

Evans reichte Brandon den Tubus und stellte sich vor Luke. Zuerst leuchtete er ihm in beide Augen, dann zog er ein kleines Lineal aus der Tasche und maß deren Abstand. »Du trägst keine Kontaktlinsen, richtig?«

»Ich will wissen, was das war! Ich konnte nicht mehr atmen! Nicht mal mehr schlucken!«

»Es geht dir doch prächtig«, sagte Evans. »Du schluckst wie ein Weltmeister. Deine Gesichtsfarbe normalisiert sich auch wieder. Also, trägst du nun Kontaktlinsen oder nicht?«

»Ich trage keine«, sagte Luke.

»Gut. Schön für dich. Blick jetzt nach vorn, bitte.«

Luke starrte auf die Wand. Das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wie man atmete, war verschwunden. Brandon zog eine Projektionsfläche von der Raumdecke, dann dimmte er das Licht.

»Blick immer weiter geradeaus«, sagte Evans. »Wenn du einmal wegschauen solltest, kriegst du von Brandon eine Ohrfeige. Beim zweiten Mal verpasst er dir einen Elektroschock – niedrige Spannung, aber sehr schmerzhaft. Hast du kapiert?«

»Ja«, sagte Luke. Er schluckte. Das ging ganz gut, seine Kehle fühlte sich normal an, aber sein Herz schlug immer noch schneller als sonst. »Weiß eigentlich die Ärztekammer Bescheid, was hier passiert?«

»Halt bloß die Klappe«, sagte Brandon.

Die Klappe zu halten war offenbar die Standardhaltung hier. Er redete sich ein, das Schlimmste wäre vorüber, der Rest wär bloß noch ein Augentest, andere Kinder hätten dasselbe durchgemacht und überlebt, aber trotzdem schluckte er immer wieder, um sich zu bestätigen, dass auch er es schaffen würde. Man würde eine Sehtafel projizieren, er würde die Buchstaben lesen, und dann war es vorüber.

»Direkt geradeaus«, sagte Evans beinahe säuselnd. »Den Blick auf die Leinwand und nirgendwo anders hin.«

Musik ertönte – Geigen mit irgendeinem klassischen Stück. Das sollte wohl beruhigend wirken.

»Priscilla, schalten Sie den Projektor ein«, sagte Evans.

Anstatt einer Sehtafel erschien auf der Mitte der Leinwand ein runder blauer Punkt, der wie ein Herzschlag leicht pulsierte. Darunter tauchte ein roter Punkt auf, bei dem Luke an HAL denken musste – »Es tut mir leid, Dave.« Als Nächstes kam ein grüner Punkt. Der rote und der grüne Punkt pulsierten erst synchron mit dem blauen, dann blitzten alle drei abwechselnd auf und erloschen. Weitere Punkte erschienen, zuerst nacheinander, dann zu zweit, dann dutzendweise. Bald war die Leinwand von mehreren Hundert blinkenden Farbpunkten überzogen. Bunte Blitze.

»Auf den Bildschirm«, säuselte Evans. »Den Biiildschirm. Nirgendwo andershin.«

»Wenn ich die Dinger nicht von selbst sehe, werden sie also projiziert? Wie um einen Motor anzukurbeln oder so? Das kommt mir…«

»Klappe!« Diesmal war es Priscilla.

Jetzt fingen die Punkte an zu wirbeln. Sie jagten wild hintereinander her. Manche schienen Spiralen zu bilden, manche scharten sich zusammen, manche bildeten Kreise, die nach oben stiegen, sich senkten und sich kreuzten. Auch die Geigen spielten schneller, wodurch sich die leichte klassische Melodie in eine Art Tanzmusik verwandelte. Nun bewegten sich die Punkte nicht mehr nur, sie waren zu einer gewaltigen elektronischen Werbetafel geworden, deren Schaltkreise verrücktspielten. Luke hatte den Eindruck, dass er kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Er dachte daran, wie Harry Cross durch den Maschendrahtzaun gekotzt hatte, und wusste, er würde dasselbe tun, wenn er weiter auf diese wild dahinrasenden Farbpunkte starrte, aber er wollte nicht kotzen, sonst landete alles auf seinem Schoß, und deshalb…

Brandon verpasste ihm eine kräftige Ohrfeige. Das dabei entstehende Geräusch war wie ein Knallfrosch, der zugleich in der Nähe und weit weg explodierte. »Schau auf die Leinwand, Kumpel!«

Etwas Warmes rann Luke über die Oberlippe. Da hat dieser Dreckskerl nicht nur meine Wange erwischt, sondern auch meine Nase, dachte Luke, aber eigentlich kam ihm das nicht weiter wichtig vor. Die wirbelnden Punkte waren ihm in den Kopf gestiegen, sie überfluteten sein Gehirn wie Enzephalitis oder Meningitis. Wie irgendeine Itis jedenfalls.

»Okay, Priscilla, schalten Sie aus«, sagte Evans, doch offenbar hörte sie ihn nicht, denn die Punkte verschwanden nicht. Sie blühten abwechselnd auf und schrumpften wieder zusammen, wobei jede Blüte größer als die vorherige war: wuuusch und zack, wuuusch und zack. Die Blüten wurden dreidimensional, lösten sich von der Leinwand, rasten auf ihn zu und wieder zurück, rasten hin und her…

Er glaubte zu hören, wie Brandon etwas über Priscilla sagte, aber das fand doch bestimmt nur in seinem Kopf statt, oder? Und schrie da wirklich jemand? Falls ja, war das möglicherweise er selbst?

»Braver Junge, Luke, sehr gut, das machst du prima.« Das war die Stimme von Evans, die von weit her in seine Ohren dröhnte. Von irgendwo hoch oben in der Stratosphäre. Vielleicht sogar von der anderen Seite des Mondes her.