»Zuerst haben sie mir eine Spritze verpasst, auf die ich ziemlich heftig reagiert hab. Ich hab keine Luft mehr gekriegt. Einen Moment lang dachte ich, dass ich sterbe.«
»Hm. Mir haben sie vor dem Test auch was gespritzt, aber das hatte keine Wirkung. Das klingt ja wirklich schlimm. Tut mir leid, Lukey.«
»Das war nur der Anfang. Während ich auf die Lichter geschaut hab, bin ich bewusstlos geworden. Ich glaube, ich hatte einen Krampfanfall.« Außerdem hatte er sich ein bisschen in die Hose gemacht, aber diese spezielle Information wollte er lieber für sich behalten. »Nachdem ich wieder zu mir gekommen bin…« Er hielt inne, um sich zu beruhigen. Schließlich hatte er nicht die Absicht, vor diesem hübschen Mädchen mit ihren schönen braunen Augen und ihren glänzenden schwarzen Haaren in Tränen auszubrechen. »Nachdem ich wieder zu mir gekommen bin, haben sie mich geschlagen.«
Sie setzte sich auf. »Was sagst du da?«
Er nickte. »Einer von den Ärzten… Evans, kennst du den?«
»Der mit dem kleinen Schnurrbart.« Sie rümpfte die Nase und nahm einen weiteren Schluck.
»Genau, der. Er hatte einen Stapel Karten und wollte mich dazu bringen, ihm zu sagen, was drauf ist. Es waren Zenerkarten. Höchstwahrscheinlich jedenfalls. Du hast mir davon erzählt, weißt du noch?«
»Klar. Mit denen haben sie mich bestimmt ein Dutzend Mal getestet. Eher zwei Dutzend Male. Aber nicht direkt nach den Lichtern. Danach haben sie mich einfach in mein Zimmer zurückgebracht.« Sie nippte wieder an der Flasche. »Offenbar haben sie ihre Unterlagen durcheinandergebracht und dachten, du bist TP statt TK.«
»Das hab ich anfangs auch gedacht und es ihnen gesagt, aber sie haben mich weiter geschlagen. Als ob sie dächten, ich würde simulieren.«
»So was Verrücktes hab ich noch nie gehört«, sagte sie, wieder leicht verwaschen.
»Ich glaube, es ist passiert, weil ich nicht pos bin, wie ihr sagt. Ich bin bloß ganz normal. Uns normale Kids nennen sie Pinks.«
»Ja. Pinks. Das stimmt.«
»Was ist mit den anderen? Ist denen so was schon passiert?«
»Ich hab sie nie danach gefragt. Bist du dir sicher, dass du nichts abhaben willst?«
Luke nahm die Flasche entgegen und trank einen Schluck, aber in erster Linie, damit Kalisha nicht alles trank. Nach seiner Einschätzung hatte sie bereits genug. Das Gesöff schmeckte genauso scheußlich, wie er erwartet hatte. Er gab ihr die Flasche zurück.
»Willst du nicht wissen, was ich feiere?«, fragte sie.
»Was denn?«
»Iris. Ihr Andenken. Sie ist jemand wie du, nichts Besonderes, bloß ein bisschen TK. Vor einer Stunde sind sie gekommen und haben sie mitgenommen. Und wie George sagen würde, werden wir sie nie wiedersehen.«
Sie fing an zu weinen. Luke umarmte sie. Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Sie ließ es zu und senkte den Kopf an seine Schulter.
17
Später ging Luke wieder auf die Website mit Mr. Griffin, tippte die Internetadresse der Star Tribune ein und starrte beinahe drei Minuten darauf, bevor er sie löschte, ohne die Eingabetaste zu drücken. Feigling, dachte er. Ich bin ein Feigling. Wenn sie tot sind, sollte ich das herausfinden. Nur wusste er nicht, wie er dann mit der Nachricht umgehen sollte, ohne völlig zusammenzubrechen. Und abgesehen davon – was würde es ihm nützen?
Stattdessen tippte er Vermont Anwalt Entschuldung ein. Das hatte er bereits recherchiert, sagte sich jedoch, dass es immer eine gute Idee war, seine Ergebnisse noch einmal nachzuprüfen. Außerdem konnte er sich damit die Zeit vertreiben.
Zwanzig Minuten später loggte er sich aus und überlegte gerade, ob er einen Spaziergang machen und sich umschauen sollte, wer unterwegs war (Kalisha war seine erste Wahl, falls die nicht ihren Rausch ausschlief), als die farbigen Punkte wiederkamen. Sie wirbelten ihm vor den Augen herum, und seine Umgebung wich zurück. Genauer gesagt, brauste sie davon wie ein Zug, der den Bahnhof verließ, während man ihn vom Bahnsteig aus beobachtete.
Er ließ den Kopf auf den zugeklappten Laptop sinken, machte tiefe, langsame Atemzüge und befahl sich durchzuhalten, durchzuhalten, einfach durchzuhalten. Es würde schon vorübergehen, sagte er sich und sperrte sich gegen jeden Gedanken daran, was geschehen würde, wenn es nicht vorüberging. Immerhin konnte er schlucken. Das tat gut, und irgendwann ging das Gefühl, von sich selbst wegzutreiben – und in ein Universum aus wirbelnden Lichtblitzen zu entschweben–, tatsächlich vorüber. Er wusste nicht, wie lange es angedauert hatte. Vielleicht waren es nur eine oder zwei Minuten gewesen, aber es kam ihm wesentlich länger vor.
Er ging ins Bad, putzte sich die Zähne und betrachtete sich dabei im Spiegel. Dass er die Punkte gesehen hatte, wussten sie womöglich, das wussten sie sogar ziemlich sicher, aber das andere konnten sie nicht wissen. Er hatte nämlich zwar tatsächlich keine Ahnung gehabt, was auf der ersten und der dritten Karte gewesen war, aber auf der zweiten war ein Junge auf einem Fahrrad gewesen und auf der vierten ein kleiner Hund mit einem Ball im Maul. Schwarzer Hund, roter Ball. Anscheinend war er doch TP.
Oder er war es inzwischen geworden.
Luke spülte sich den Mund, schaltete das Licht aus, zog sich im Dunkeln aus und legte sich aufs Bett. Die Lichter hatten etwas an ihm verändert. Offenbar vermuteten seine Peiniger das, waren sich jedoch nicht sicher. Er wusste zwar nicht, wie er das verifizieren konnte, aber…
Er war ein Versuchskaninchen, wahrscheinlich waren sie das alle, aber schwach ausgeprägte TPs und TKs – Pinks – wurden zusätzlichen Tests unterzogen. Weshalb? Weil sie weniger wertvoll waren? Weil man leichter auf sie verzichten konnte, wenn etwas schiefging? Das war zumindest wahrscheinlich. Auf jeden Fall dachten die Ärzte bestimmt, das Experiment mit den Karten wäre gescheitert. Das war gut. Es waren schlechte Menschen, und etwas vor solchen Menschen geheim zu halten musste gut sein, oder etwa nicht? Allerdings hatte er so eine Ahnung, dass die Lichter noch einem anderen Zweck dienten als nur dazu, die Talente von Pinks zu steigern, denn stärkere TPs und TKs wie Kalisha und George wurden ebenfalls damit traktiert. Was mochte dieser andere Zweck wohl sein?
Da fiel ihm erst mal nichts ein. Er wusste nur, dass die Punkte verschwunden waren. Auch Iris war verschwunden, aber die Punkte kehrten womöglich wieder, im Gegensatz zu Iris. Iris war in den Hinterbau verlegt worden, und er würde sie nie wiedersehen.
18
Am folgenden Morgen saßen neun Kinder beim Frühstück, doch da Iris fort war, wurde nur wenig gesprochen und gelacht. George Iles riss keine Witze. Helen Simms beschränkte ihr Frühstück auf Zuckerzigaretten. Harry Cross holte sich einen Berg Rührei vom Büfett und schaufelte ihn (samt Bacon und Bratkartoffeln) in sich hinein, ohne von seinem Teller aufzublicken, als würde er Schwerstarbeit verrichten. Greta und Gerda Wilcox, die beiden kleinen Mädchen, aßen gar nichts, bis Gladys mit ihrem sonnigen Lächeln auftauchte und sie dazu brachte, ein paar Bissen zu verzehren. Über die Zuwendung schienen die Zwillinge sich zu freuen, sie lachten sogar ein bisschen. Luke überlegte, ob er sie später beiseitenehmen und davor warnen sollte, diesem Lächeln zu trauen, aber das würde ihnen nur Angst machen, und was würde das nützen?
Was würde das nützen war zu einem weiteren Mantra geworden. Luke wurde klar, dass das eine schlechte Denkweise war, ein Schritt dahin, den Ort hier zu akzeptieren. Diesen Schritt wollte er nicht tun, auf gar keinen Fall, doch an der Logik führte kein Weg vorbei. Wenn die kleinen Mädchen sich durch die Aufmerksamkeiten von Gladys getröstet fühlten, war das vielleicht gut, aber wenn er daran dachte, wie man eben diese Mädchen mit dem Rektalthermometer traktierte… und Lichtern…