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»Was ist denn mit dir los?«, fragte Nicky. »Du siehst aus, als hättest du in eine Zitrone gebissen.«

»Nichts. Hab bloß an Iris gedacht.«

»Die ist Geschichte, Alter.«

Luke sah ihn an. »Das ist aber brutal.«

Nicky zuckte die Achseln. »Ist die Wahrheit oft. Sollen wir rausgehen und Basketball spielen?«

»Nein.«

»Komm schon. Ich lass dir ’nen Vorsprung.«

»Keine Lust.«

»Angst zu verlieren?«, fragte Nicky ohne Groll.

Luke schüttelte den Kopf. »Ich würde mich dabei bloß schlecht fühlen. Das hab ich nämlich oft mit meinem Dad gespielt.« Ihm wurde klar, dass er in der Vergangenheit gesprochen hatte, und das hasste er.

»Okay, das versteh ich.« Nicky sah Luke mit einem Ausdruck an, den er kaum ertrug, vor allem weil ihn jemand wie Nicky Wilholm auf dem Gesicht hatte. »Hör mal…«

»Was denn?«

Nicky seufzte. »Komm einfach nach draußen, wenn du’s dir anders überlegst.«

Luke verließ den Aufenthaltsraum, wanderte seinen Flur entlang – den mit dem TAG WIE IM PARADIES – und ging dann weiter in den nächsten, den er für sich nun Eisspender-Flur nannte. Keine Spur von Maureen, weshalb er weiterging. Er kam an weiteren aufmunternden Postern und weiteren Zimmern vorüber, insgesamt neun auf jeder Seite. Sämtliche Türen standen offen, dahinter sah man ungemachte Betten und kahle Wände ohne Poster. Dadurch entpuppten die Räume sich als das, was sie tatsächlich waren: Gefängniszellen für Kinder. Luke ging am Aufzug und weiteren Zimmern vorüber. Bestimmte Schlüsse schienen unausweichlich, zum Beispiel, dass das Institut einmal wesentlich mehr »Insassen« beherbergt hatte. Falls man bei der Errichtung nicht übertrieben optimistisch gewesen war.

Schließlich kam Luke in einen zweiten Aufenthaltsraum, wo der Hausmeister namens Fred in weiten, schlampigen Kreisen eine Poliermaschine über den Boden schob. Auch hier gab es Automaten für Snacks und Getränke, die jedoch leer und ausgesteckt waren. Draußen sah man keinen Spielplatz, sondern nur eine mit Kies bestreute Fläche, einen Maschendrahtzaun mit einigen Bänken davor (wahrscheinlich für Angestellte, die in den Pausen draußen sitzen wollten) und in etwa siebzig Meter Entfernung das mattgrüne Verwaltungsgebäude. Die Höhle von Mrs. Sigsby, die ihm erklärt hatte, er sei hier, um zu dienen.

»Wo willst du hin?«, fragte Fred der Hausmeister.

»Ich geh bloß durch die Gegend«, sagte Luke. »Schauen, was es zu sehen gibt.«

»Hier gibt’s nichts zu sehen. Geh wieder dahin, wo du herkommst. Spiel mit den anderen Kindern.«

»Und wenn ich das nicht will?« Das hörte sich eher kläglich als trotzig an, weshalb Luke sich wünschte, er hätte den Mund gehalten.

An einer Hüfte trug Fred ein Walkie-Talkie, an der anderen einen Schockstock. Er klopfte an Letzteren. »Geh zurück. Ich sag’s dir nicht noch mal.«

»Okay. Einen schönen Tag noch, Fred.«

»Den kannst du dir irgendwohin stecken.« Die Poliermaschine heulte wieder auf.

Während Luke den Rückzug antrat, staunte er darüber, wie schnell seine ganzen unerschütterlichen Annahmen über Erwachsene – zum Beispiel, dass sie nett zu einem waren, wenn man nett zu ihnen war – in Stücke geflogen waren. Er versuchte, nicht in die vielen leeren Zimmer zu blicken, an denen er vorüberkam. Die waren unheimlich. Wie viele Kinder darin wohl gewohnt hatten? Was war mit denen geschehen, nachdem man sie in den Hinterbau verlegt hatte? Und wo waren sie jetzt? Zu Hause?

»Scheiße, das sind sie nicht«, murmelte er und wünschte sich, seine Mutter wäre hier und würde wegen seiner Ausdrucksweise mit ihm schimpfen. Dass er seinen Vater nicht bei sich hatte, war schlimm. Dass seine Mutter nicht da war, war so, als hätte man ihm einen Zahn gezogen.

Als er in den Eisspenderflur kam, sah er Maureens Wäschewagen vor Averys Zimmer stehen. Er steckte den Kopf durch die Tür, und sie lächelte ihn an, damit beschäftigt, die Bettdecke glatt zu streichen. »Alles okay, Luke?«

Eine dämliche Frage, aber er wusste, dass sie es gut meinte; vielleicht hatte es etwas mit der gestrigen Lightshow zu tun. Ihr Gesicht sah heute bleicher aus, die Linien um ihren Mund waren tiefer. Der geht es nicht gut, dachte Luke.

»Klar. Und wie geht’s Ihnen?«

»Bestens.« Sie log. Das fühlte sich nicht wie eine Ahnung oder eine Einsicht an, sondern wie eine unumstößliche Tatsache. »Bis darauf, dass der hier – Avery – heute Nacht ins Bett gemacht hat.« Sie seufzte. »Damit ist er nicht der Erste und wird auch nicht der Letzte sein. Gott sei Dank ist es nicht durch die Matratzenauflage gegangen. Na, dann tschüs, Luke. Einen schönen Tag noch.« Mit hoffnungsvollen Augen blickte sie ihm direkt ins Gesicht, nur dass der hoffnungsvolle Ausdruck eigentlich hinter diesen Augen lag. Sie haben mich verändert, dachte er wieder. Ich weiß nicht, wie, und ich weiß auch nicht, wie stark, aber sie haben mich eindeutig verändert. Etwas Neues ist hinzugekommen. Er war unheimlich froh, dass er bei den Karten gelogen hatte, und erst recht darüber, dass sie die Lüge geschluckt hatten. Zumindest vorläufig.

Luke tat so, als wollte er davongehen, dann drehte er sich wieder um. »Ich glaube, ich besorge mir noch ein bisschen Eis. Gestern hat man ziemlich auf mich eingedroschen, und mein Gesicht tut weh.«

»Tu das, Sohnemann. Tu das.«

Wieder tat es ihm gut, so genannt zu werden. Beinahe hätte er gelächelt.

Er holte den Eiskübel, der noch in seinem Zimmer war, goss das restliche Wasser im Bad ins Waschbecken und machte sich auf den Weg zum Eiswürfelspender. Dort wartete Maureen. Nach unten gebeugt, lehnte sie mit dem Hintern an der Betonwand und hatte die Hände auf die Schienbeine gestützt, fast schon an den Knöcheln. Luke eilte auf sie zu, aber sie wedelte beschwichtigend mit der Hand. »Ich strecke bloß den Rücken. Dann zwickt es nicht mehr so.«

Luke öffnete die Tür des Spenders und griff nach der Schaufel. Von Kalisha hatte er einen Zettel zugesteckt bekommen, aber Maureen konnte er keinen schreiben, weil er zwar einen Laptop hatte, aber weder Papier noch Kugelschreiber. Nicht mal einen Bleistiftstummel. Vielleicht war das gut so. Hier drin stellten Zettel eine Gefahr dar.

»Leah Fink in Burlington«, murmelte er, während er Eis in den Kübel schaufelte. »Oder Rudolph Davis in Montpellier. Beide haben fünf Sterne auf Legal Eagle, das ist ein Verbraucherportal. Können Sie sich die Namen merken?«

»Leah Fink, Rudolph Davis. Herzlichen Dank, Luke.«

Luke wusste, dass er es darauf beruhen lassen sollte, aber er war neugierig. Das war er immer schon gewesen. Anstatt sich davonzumachen, stieß er mit der Schaufel nach dem Eis, als wollte er die Stücke auseinanderbrechen. Das war zwar absolut nicht nötig, machte aber schön viel Krach. »Avery sagt, das Geld, das Sie gespart haben, ist für ein Kind. Es geht mich zwar nichts an…«

»Der kleine Dixon gehört zu den Gedankenlesern, stimmt’s? Er muss ganz schöne Kräfte haben, auch wenn er ins Bett pinkelt. Auf seinem Bogen ist jedenfalls kein rosa Punkt.«

»Ja, das kann er.« Luke hantierte weiter mit der Schaufel herum.

»Tja, er hat recht. Ich hab meinen Jungen gleich nach der Geburt über die Kirche zur Adoption freigegeben. Ich wollte ihn behalten, aber der Pfarrer und meine Mutter haben es mir ausgeredet. Der Dreckskerl, den ich später geheiratet hab, wollte keine Kinder, deshalb hab ich in meinem Leben bloß das bekommen, das ich weggegeben hab. Interessiert dich das denn wirklich, Luke?«

»Ja.« Was stimmte, aber es war womöglich eine schlechte Idee, sich zu lange zu unterhalten. Selbst wenn sie nicht abgehört wurden, wurden sie sicher beobachtet.

»Als meine Rückenschmerzen anfingen, kam mir der Gedanke, dass ich rauskriegen muss, was aus meinem Jungen geworden ist, und das hab ich auch geschafft. Die Behörden sagen, sie dürfen dir nicht mitteilen, wo die Babys hingekommen sind, aber die Kirche hat alle Adoptionsunterlagen bis zu den Fünfzigerjahren, und ich hab das Computerpasswort gefunden. Der Pfarrer hat es direkt unter der Tastatur in seinem Büro liegen. Mein Junge lebt bloß zwei Städte weiter von da, wo ich in Vermont wohne. Er ist in der letzten Klasse von seiner Highschool und will aufs College gehen. Das hab ich auch herausgekriegt. Mein Sohn will aufs College! Dafür ist das Geld da, nicht dafür, die Schulden von diesem Dreckskerl abzuzahlen.«