Die Volleyballspieler am anderen Ufer verschwanden hinter den Kiefern. Als Letzte brach die halbnackte, dünne Frau auf. Der Ball in ihren Händen sprang auf und ab, als lebe er.
Als die Dämmerung hereinbrach, beschloss er endlich, den leeren Strand zu verlassen. Djunkas Kleidung ließ er zurück. Sie mitzunehmen hieße, daran zu glauben.
Djunka wird schon noch kommen, redete sich Klaw immer wieder ein. Djunka wird kommen — und dann fände sie ihre Sachen nicht. Sie konnte doch nicht im Badeanzug nach Hause gehen, oder? Schließlich war die Nacht kühl.
Er trabte im gemäßigten Tempo dahin, und als er dennoch außer Puste geriet, wechselte er in Schrittgeschwindigkeit. Nur kurz anrufen würde er und dann gleich zurückkommen. Djunka würde sich die Haare auswringen und ihn aufgebracht anfahren: Warum hast du nicht auf mich gewartet?
Das Polizeirevier war verraucht. Graublauer Qualm hing über den Holztischen, über den Schränken und Bänken, über der leeren, einsamen Zelle in der Ecke, eingerichtet für alle diejenigen, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen.
»Wiederhol den Namen, vollständig.«
»Dokija Sterch … Siebzehn Jahre.«
»Und ihr habt euch wirklich nicht gestritten?«
»Nein. Sie … sie hätte so etwas nie gemacht. Sie …«
»Beruhige dich.«
Er schloss die Augen. Zum x-ten Male: Beruhige dich. Hier waren alle ruhig, hier heulten jede Nacht Leute, während andere lautstark fluchten, hier roch es sogar durch den Rauch hindurch nach Eisen und Schweiß, hier war es unerträglich stickig.
»Wyshnaer Schule Nr. 3 … Wohnheim. Zimmer 74 …«
Es läutete. Noch einmal. Durch die Scheibe war kein Ton zu hören. Eifrig bewegten sich Lippen.
»Was hatte sie an?«
»Hä?«
»Was hatte sie an?«
Djunkas Sandalen lagen da, unter einer Schicht Sand begraben. Sorglos hatte sie die Shorts auf die Strandmatte geworfen …
»Beruhige dich, mein Junge. Wird schon nichts passiert sein. Morgen früh ist sie wieder da.«
Und dann brach der Morgen an.
2
Der Bus kam mit einer halben Stunde Verspätung in Wyshna an. Ywha steuerte auf die nächste Telefonzelle zu und zog ihr zerfleddertes Notizbuch heraus, rührte sich dann aber lange nicht, sondern blickte mit starrem, entrücktem Blick durch das trübe Glas.
In dieser Stadt lebten mehr als genug Menschen. Und es gab durchaus einige, für die die Wortverbindung »Ywha Lys« nicht nur eine leere Hülse war. Zum Beispiel Beta, mit der sie sich ein Zimmer geteilt hatte. Oder Klokus, der so gern mit ihr befreundet sein wollte. Oder die Besitzerin des Antiquariats am Rosenplatz, eine strenge, auf Etikette bedachte Dame, die Nasar damals an der Tür aufgehalten hatte, um ihm leise ins Ohr zu flüstern: »Das ist kein Mädchen, sondern ein Wunder. Sie sollten keine Sekunde zögern …«
Normalerweise stellte man in dem Antiquariat niemanden ohne Empfehlungen ein. Doch Ywha passte ausgezeichnet — geradezu ideal — zu dem barocken Ambiente, ihr unscheinbares Gesicht mit den Fuchsaugen und der feuerroten Mähne nahm sich inmitten der verschnörkelten Pracht so gut aus …
»Dein Name passt zu dir. Lys, das bedeutet Fuchs. Und ein Fuchs bist du. Eine Füchsin. Ein Füchslein …«
Ein fülliger Mann klopfte sanft gegen die milchige Scheibe. »Junge Dame, sind Sie fertig? Kann ich jetzt telefonieren?«
Ywha kam heraus und überließ ihm das Telefon. Sie setzte sich auf eine Bank und presste den Riemen ihrer zerschlissenen Tasche in den Händen zusammen.
Jeder von ihnen … Jeder Einzelne von ihnen … Was würde die Besitzerin des Antiquariats für ein Gesicht machen, wenn sie erführe, dass in ihrem Geschäft ein halbes Jahr lang eine Hexe gearbeitet hatte? Würden die Kunden nicht angetrabt kommen, um alles zurückzugeben, was Ywha ihnen verkauft hatte? Und Klokus … Ja, sogar Beta, die vermutlich die Baseballkappe wegschmeißen würde, die sie Ywha einmal ausgeliehen hatte.
Aber was erwartete sie denn von ihnen? Wenn sogar Nasar …
Die Knöchel ihrer Hände traten weiß hervor. Sicher, Nasar hatte ihr keinen Vorwurf gemacht. Sie selbst war es, die ihn eines Schrittes für fähig hielt, den er gar nicht gemacht hatte. Deshalb war sie fortgerannt, ohne jede Erklärung. Wie eine Verräterin, wie eine Diebin.
Der Dicke beendete sein Gespräch. Als Ywha zur Telefonzelle zurückging, spürte sie, wie ihr Herz hämmerte und ihre Hände feucht wurden.
Ein langes Tuten am anderen Ende der Leitung. Noch eins. Und dann noch eins.
»Hallo?«
Die Stimme ihres Schwiegervaters. Die Worte blieben Ywha im Hals stecken.
»Hallo!«, erklang es nun verärgert.
Behutsam hängte Ywha den Hörer ein.
Ein kleiner Misserfolg zieht sofort Tränen nach sich. Das Bewusstsein, ein Fiasko erlitten zu haben, stellt sich dagegen erst langsam ein, nach und nach.
Ywha stieg in die Metro und fuhr jeweils ein paar Stationen in die eine und in die andere Richtung. Die trügerische Freiheit raubte ihr noch den Verstand. Sie konnte gehen, wohin sie wollte — doch die Tür des kleinen Käfigs fiel bereits zu. Sie war gefangen, gefangen wie ein Füchslein. Und sie konnte nichts daran ändern.
Sie konnte sich nicht dazu durchringen, einen ihrer Bekannten aufzusuchen. Als wäre ihr das Wort »Hexe« auf der Stirn eingebrannt. Sie hatte nicht nur Nasar verloren — sie hatte ihr Geheimnis verloren, das es ihr erlaubt hatte, glücklich in dieser glücklichen Stadt zu leben. Obwohl das natürlich Quatsch war: Wie sollte sie denn ohne Nasar ein glückliches Leben führen?
Etwas Ähnliches hatte sie schon einmal erlebt. Erst, als sie aus ihrem Heimatdorf hatte fliehen müssen. Und dann, als sie die Ausbildung hatte abbrechen und Hals über Kopf die Stadt Rydna hatte verlassen müssen, die doch im Grunde ganz passabel gewesen war. Außerdem noch, als …
Sie erschauderte. Dort, in jenem Brei unangenehmer Erinnerungen, verbarg sich auch ihre erste Begegnung mit einem Inquisitor. Die Übelkeit und die Schwäche, die sie damals empfunden hatte. Der ausgestreckte Zeigefinger: »Hexe!«
Ywha fuhr zusammen und sah sich um. Der Metrowaggon war voller Fahrgäste, ab und zu schaukelte er wie eine Wiege. Die auf sie gerichteten Zeigefinger existierten jedoch nur in ihrer Phantasie. Die Leute lasen, schlummerten, unterhielten sich oder starrten mit leerem Blick auf die dunklen Scheiben.
Sie sehen aber auch abscheulich aus, kleines Fräulein, kanzelte Ywha ihr bleiches Spiegelbild innerlich ab. Sie sollten unbedingt zum Friseur und zur Massage gehen, meine Liebe, vor allem aber zu einem Psychiater. Denn Sie haben ganz wahnsinnige Augen. Vermutlich wird man sich weigern, eine verrückte Hexe wie Sie überhaupt zu registrieren. Selbst zur gemeinnützigen Arbeit taugen Sie nicht. Die werden Sie unverzüglich auf dem Scheiterhaufen verbrennen — oder was sie heute so haben. Auf dem Lande, da gibt es mit Sicherheit noch einen primitiven Scheiterhaufen, aber hier in der Stadt werden sie wohl eher einen humanen elektrischen haben … einen Hexengrill …
Auf einmal bedrückte sie die Fahrt in der Untergrundbahn. Wieder an der frischen Luft, brauchte sie lange, um sich zu sammeln, wobei sie so tat, als studiere sie die Zeitschriften in der Auslage eines Kiosks. Damit zog sie allerdings einige erstaunte Blicke auf sich, bis sie plötzlich begriff: Es handelte sich um ausgesprochen frivole Magazine, solche mit dem fetten Aufdruck »Für Männer«.