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Noch gestern, unter den Blicken der Kuratoren, hatte er sich so selbstsicher und stark gefühlt wie nie zuvor.

Heute musste er voller Entsetzen feststellen, dass er sich geirrt hatte. Er hatte seine Kräfte überschätzt. Die Mutterhexe hatte es nicht auf ein Duell angelegt. Sie spielte mit ihm wie die Katze mit der Maus.

»Ich allein zweifle hingegen keinen Augenblick daran, dass meine Herrinnen nicht über die eigenen Gräuel erschrocken sind.«

»Mithin habe ich, dem allein es an Hoffnung gebricht, entzöge eine solche Hoffnung mir doch jedwede Kraft, meinen Herrinnen einen würdigen Empfang zu bereiten. Nun, da die Mutterhexe so nahe ist, dass ich, ihren Geist witternd, keinen Schlaf finde. […] Und noch heute wird sich um ihren Hals die eiserne Zange schließen, die mein Wille geschmiedet.«

Nein, Klawdi witterte sie nicht. Sein Wille blieb tatenlos. Seine fünf Kollegen, die die Nacht in den Kellern zugebracht hatten, wagten es nicht, ihm in die Augen zu sehen.

Weit unten, nur knapp über ihrem Kopf, hing tief eine böse rote Sonne. Eine sengende, glühende, an eine Stahlspirale erinnernde Sonne. Ywha unterdrückte ein Stöhnen. Sie versuchte, sich zu bewegen — doch ihre Arme waren wie tot. Ihre Beine versagten ihr den Dienst. Die Angst fachte ihre Kräfte an, ließ sie immerhin die Lider aufschlagen.

Die gelbe Schlange war fort. Es war dunkel. Und nur knapp über ihrem Kopf brannte ein roter Fleck.

Sie erschauderte. Sie erinnerte sich an alles. Fieberhaft versuchte sie, sich zu konzentrieren, um sich die entscheidende, die wesentliche Frage zu stellen: Bin ich noch ich? Hat niemand anders von mir Besitz ergriffen, sich in meinem Bewusstsein eingenistet, in meiner Erinnerung? Bin ich noch immer die alte Ywha?

Sie lag auf der Seite, in einer merkwürdig gekrümmten Haltung. Der Boden zitterte, irgendwo lief gleichmäßig ein Motor. Sie befand sich in einem Auto. Der brennende rote Punkt über ihr war das Zeichen der Inquisition, das man an das Eisendach des Lasters gemalt hatte. Dämmerlicht und Leere umgaben sie. Ein graues Licht drang durch die Ritzen. Ihre Hände und Füße steckten in schweren Holzblöcken — Fesseln, wie sie im Buche stehen, die sich in den letzten tausend Jahren vermutlich nicht verändert hatten, war doch nichts auf der Welt so dauerhaft wie die Fesseln der Inquisition.

Doch egal. Das Einzige, was jetzt zählte, war die Frage: Bin ich ich –oder nicht?

Ihre Mutter. Gras. Ein weißes Band über der Stuhllehne. Die Gänse, Seerosenblätter, eine Sporttasche, die nach Deo stank, Zigarettengeruch …

Panik flutete über Ywha hinweg. Sie glaubte, sie würde sich an etwas Bestimmtes nicht erinnern. Oder konnte sich nicht erkennen, konnte in ihrem Gedächtnis das Gesicht ihrer Mutter nicht finden …

»Komm sofort wieder zurück! Ständig willst du fort! Dabei musst du noch Schularbeiten machen! Zu deinen Freunden kannst du nachher noch …«

Falten in den Mundwinkeln. Eine Locke in der Stirn, ein gestreiftes Handtuch in den Händen. Eine Frau, dürr wie eine Bohnenstange, auf der ausgetretenen Schwelle.

»Warum hast du deiner Mutter nicht geschrieben?«

Ywha schluchzte.

Was bist du nur für eine Idiotin, sagte eine Ruhe in ihr, von der sie nicht wusste, wo sie herkam. Genau diese Frage beweist doch, dass es dich noch gibt. Dass du das bist und niemand sonst, du, genauso wie es dich gestern gab und vorgestern und bei deiner Geburt. Dass da niemand sonst in dir steckt.

Ywha holte tief Luft. Zu ihrer eigenen Überraschung fing sie an zu lachen. In dem dunklen Kasten des schaukelnden Lasters, gefesselt mit den schweren Holzblöcken, mit dem brennenden Zeichen über sich, lachte Ywha und leckte sich die Glückstränen ab. Offenbar war das Ritual bei ihr nicht vollendet worden. Sie war diejenige geblieben, die sie immer gewesen war. Wahrscheinlich war sie auch aus diesem Grund nicht an Ort und Stelle getötet, sondern in diese dämlichen Fesseln gesteckt worden; und jetzt brachte man sie …

Das Lachen erstarb von selbst. Sie senkte die Lider und versuchte, die geröteten Augen gegen das brennende, ätzende Zeichen zu schützen. Sie hatte keine Kraft mehr, an etwas zu denken. Sollten die Dinge ruhig ihren Lauf nehmen. Sie, Ywha, würde ohnehin nichts daran ändern können.

Sie hatte die Lider gesenkt — und vor ihren Augen war der gelbe Schlangenkörper entstanden. Ein Schritt, ein weiterer, und noch einer …

Sie erzitterte. Angespannt wollte sie sich aufsetzen, sich das Gesicht abwischen, doch die Hände, die aus den Holzblöcken herausragten, gehörten praktisch nicht zu ihr. Gehorchten ihr nicht, entzogen sich ihr, waren tot, nicht mehr als zwei mit Sand gefüllte Handschuhe.

Kraftlos sackte ihr Kopf nach hinten. Sie bettete den Nacken auf den vibrierenden Boden und verzog das Gesicht, als bei einem tiefen Schlagloch ihr Kopf so hart aufschlug, als sei er eine Holzkugel. Schlafen wollte sie. An nichts denken. Abschalten.

Tatsächlich schlummerte sie ein.

Und ihr gefesselter Körper führte sich seltsam auf.

Sie blähte sich auf, schwoll zu einer Wolke an, kannte kein Maß, quoll weiter und weiter auf, bis sie den ganzen Laster mit sich selbst ausfüllte, durch die Ritzen nach draußen sickerte, zum Himmel aufstieg und auf der Straße zerfloss. Ywha stöhnte leise und sehnte sich einen neuen Traum herbei. Einen nicht ganz so schrecklichen, der ihr ihre Mutter und Gras zeigte, den Sommer …

Dann verlor sich die Angst.

Ywhas Körper waberte durch die Welt. Nein, er saugte die Welt in sich auf. Ywha spürte, wie die fahlen Lichter am Horizont erloschen — als rupfe jemand eine weißköpfige Nadel nach der anderen heraus. Wie der Himmel erzitterte, wie die Erde erkaltete, wie etwas sie kitzelte. Aber was? Ein Bach? Und sie spürte, wie die Stadt sie juckte. Ungeheuer juckte. Als ob … etwas … jemand … sie vermochte es nicht richtig wahrzunehmen, der Juckreiz ließ sie lediglich das Gesicht verziehen.

In ihre Hände kehrte das Leben zurück. Jeder Fingernagel, jedes Härchen lebte und sah die Welt mit eigenen Augen an. Ein Dutzend bunter Bilder, Straßen, die Brandstätten und die Hoffnung, das Geschrei und die Hoffnung …

Der gelbe Körper der riesigen Schlange. Ein Schritt. Noch einer.

Sehnsucht und Zärtlichkeit breiteten sich in Ywha aus. Fast wie damals, als ihre Mutter ihr nachgeschaut hatte, von der Schwelle aus. Der Schlangenkörper ringelte sich um die Erinnerung an die Mutter, wand sich um sie, doch das war nicht schrecklich, das war eher …

Der Laster bremste ab und blieb stehen; kurz darauf schrie Ywha los.

Sehnsucht und Zärtlichkeit. All das benahm ihr die Luft zum Atmen. Es ging zu tief, es war zu schmerzhaft. Jetzt aber wusste sie die Wahrheit über die Welt, und die war so schön und ganz und gar unerträglich, ganz so als erblicke ein Blinder im hohen Alter zum ersten Mal den Himmel.

»Was schreist du so?«

Die Vision endete. Einige Sekunden lag Ywha mit geschlossenen Augen da und versuchte, die Bilder zu vergessen. Es war zu schön, das durfte man nicht in sich tragen, für eine rothaarige Frau war das zu viel.

Die Vision erbarmte sich ihrer und verlor an Leuchtkraft. Sie hinterließ einen diffusen Schatten.

»Patron, Sie haben darum gebeten … Eine Hexe, wie Sie sie beschrieben haben. Sie ist aus einem Dorf hierhergebracht worden. Eine rothaarige. Sie haben darum gebeten, informiert zu werden.«

Klawdi zwang sich, den schweren Kopf zu heben. »Bringen Sie sie in den Verhörraum, zu Hljur, der hat jetzt Dienst … Nein, warten Sie. Erst sehe ich sie mir an.«