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Das bin ich. Das bin nach wie vor ich. Ich. Ich. Ich.

Irgendwann begriff sie jedoch, dass sie mit fremden Augen sah. Mit gleichgültigen. Misstrauischen. Mitleidigen. Mit den Augen des Polizisten am Bahnhof, denen des Tschugeists Priw, ihrer Klassenkameraden und ihres Bruders, der Besitzerin des Antiquariats, und auch mit den Augen von jemand ganz anderem, der scharf darauf war, sie auszuziehen, sowie mit den Augen von Menschen, denen alles egal war.

Sie erinnerte sich noch, wie sie sich als Teenager das erste Mal nackt vor einen Spiegel gestellt und die einsetzenden Veränderungen erstaunt betrachtet hatte. Sämtliche Bilder, die sie sah, waren aufschlussreich und manchmal hart; doch mit welchen Augen sie auch schauen mochte — sie erkannte sich. Vielleicht nicht auf Anhieb, aber zweifelsfrei.

Lange und sehr traurig betrachtete sie ihr Gesicht mit den Augen Nasars. Als sie sich mit den Augen ihrer Mutter ansah, senkte sie sofort den Blick und wischte sich die Tränen von den Wangen. Um sich wieder aufzuheitern, beäugte sie sich mit den Augen des kleinen Hundes vom Platz des Siegreichen Sturms.

Nur mit den Augen Klawdis wagte sie es nicht, sich zu betrachten.

Die Spiegel trübten sich. Ywha saß da, legte das Kinn auf das glatte Holz der Fesseln und dachte an nichts. Sie wollte bloß existieren — und nicht einschlafen, denn im Schlaf würde mit Sicherheit der gestreifte Schlangenrücken wieder auftauchen. Und dieser Schlange wollte Ywha jetzt nicht begegnen.

Sie wollte Klawdi sehen. Sie wusste genau, dass er früher oder später noch einmal zu ihr kommen würde, weshalb sie geduldig und ruhig wartete. Eigentlich hätte er ihr längst einen weiteren Besuch abstatten müssen, bald würde er das auch tun, bestimmt — und sei es dienstlich.

Dieser Gedanke jagte ihr unerwartet entsetzliche Angst ein. Er würde dienstlich zu ihr kommen, in Begleitung des Henkers. Wenn Ywha bisher nur eine Zufallsbekanntschaft für ihn gewesen war, so war sie jetzt eine Feindin und eine Verräterin obendrein. Woher nahm sie überhaupt die Gewissheit, dass er ihr Gefühle entgegenbrachte, die das Protokoll nicht vorsah?

Der Gedanke quälte sie stärker als die Fesseln und die Presse. Ywha fürchtete den Henker nicht — dafür flammte ihre Angst vor Klawdi jetzt mit einer Kraft auf, die fraglos an ihre erste Begegnung erinnerte, an die in ihr aufsteigende Übelkeit und die Visitenkarte, die in ihrer Hand ein rotes Brandmal hinterlassen hatte.

Seine Seele war ein leeres Schloss voller Monster. Darin hauste das Gespenst einer einzigen, eifersüchtigen Frau, die keine Konkurrenz duldete. Obwohl Ywha über eine große und seltsame Welt herrschte, hatte sie doch keine Macht über Klawdi; und sie würde auch nie welche über ihn haben, was keinesfalls nur daran lag, dass er Großinquisitor war …

Vor ihren Augen flimmerte der gestreifte Schlangenrücken. Nein, ermahnte sie sich, nicht jetzt. Danach verändert sich die Welt jedes Mal und die Initiation scheint anzudauern, der Weg über den Rücken der gelben Schlange nie zu enden. Nicht jetzt, sagte sie sich verängstigt, denn ich will nicht, dass Klawdi mich so sieht.

In diesem Augenblick rührte sich etwas im Gefängnistrakt.

Der am Eingang wachende Inquisitor wurde nervös. Er erhielt einen Befehl, beruhigte sich und kam die Wendeltreppe herunter. Ywha begriff, dass er nicht allein war, aber ihre Witterung vermochte seinen Begleiter noch nicht zu identifizieren. Genau wie beim letzten Mal.

Inzwischen waren die beiden so nahe, dass Ywha ihre Stimmen hören konnte.

»Seien Sie so freundlich und schließen Sie die Tür auf.«

Ein heißer Kloß schnürte Ywhas Hals ab.

Der wachhabende Inquisitor zögerte. Nein, er zögerte nicht einfach — er bebte. »Patron, die Sicherheit …«, traute er sich sogar vorzubringen.

»Das ist ein Befehl.«

Panik bemächtigte sich des anderen.

Ein Zahlenschloss klackte. Dann noch eins. Die Zellentüren gaben keinen Ton von sich, hier war nichts auf Effekt angelegt, hier war alles einzig und allein der Zuverlässigkeit geschuldet. Ywha wusste, dass sie selbst bei ihrer gegenwärtigen Macht Schwierigkeiten haben würde, diese Tür von innen zu öffnen.

Im Türspalt erschien eine Fackel. Blinzelnd begriff sie zu ihrer Überraschung, dass sie bislang in tiefster Dunkelheit dagesessen hatte.

»Gehen Sie nicht hinein, Patron. Die Macht des Zeichens … ah!«

Es folgte eine lange Pause. Ywha blinzelte wie kurzsichtig und versuchte festzustellen, wohin Klawdi sah. In die Richtung, in die der zitternde Finger des anderen Inquisitors zeigte? Nämlich nach oben, auf das zerstörte Zeichen der Presse?

Hatte er Angst?

Er sagte kein Wort.

»Treten Sie zur Seite!«

Der wachhabende Inquisitor gehorchte überraschend eifrig. Vermutlich war er innerlich bereits gebrochen. Seit dreißig Jahren arbeitete er jetzt im Gefängnistrakt, da glaubte er, alles über Hexen zu wissen.

Die Fackel brannte ruhig und gleichmäßig. Hier gab es keinen Zug, hier stand die Luft. In der halb geöffneten Tür verharrte reglos ein Mann. In diesem Moment begriff Ywha, warum sie Klawdi bereits zum zweiten Mal auf eine geringe Entfernung nicht hatte wittern können. Er schien irgendwie gepanzert. Eine wandelnde Festung. Insofern erstaunte es sie auch nicht, dass die meisten Hexen in seiner Nähe kurz davor waren, in Ohnmacht zu fallen. Bemerkenswert war viel eher, dass sie, Ywha, sich so schnell an ihn gewöhnt hatte, dass sie es gelernt hatte, seine Nähe auszuhalten.

Seine Nähe. Seinen Dunstkreis. Zum ersten Mal bekam sie einen Eindruck von seiner Macht als Inquisitor. Er unterschied sich von den anderen, glich einem Abgrund, einer schwarzen Grube, und selbst jetzt, da eine große Welt in ihr lebte, konnte sie den Boden dieses Abgrunds nicht erkennen.

»Die Hexen sind so … schrecklich, Klawdi«, brach es gegen ihren Willen aus ihr heraus.

»Du hättest dich mal selbst sehen sollen«, meinte er, indem er sich ein Lächeln abrang.

Sie blickte zu Boden.

Dieses Gespräch mutete durch und durch unwirklich an. Das gleichmäßige Feuer der Fackel, der reglose Mann in der Tür.

Wenn sie sich bemühte, würde sie eventuell ansatzweise etwas von seinen Motiven verstehen. Sie streckte sich bereits nach ihm aus, fasste nach seinem Panzer — ließ jedoch sogleich von ihrem Vorhaben wieder ab und zog die unsichtbaren, fleischlosen Hände zurück. Obwohl ihm ihr Versuch nicht entgangen war, ließ er sich nichts anmerken. Nach wie vor schwieg er und hielt die Fackel in der Hand.

»Klawdi! Ich habe solche Angst gehabt, dass Sie nicht kommen.«

»Wusstest du denn nicht, dass ich komme?«

»Glauben Sie nicht, Klawdi, dass in die Seele … von Hexen bei der Initiation ein anderes Wesen einquartiert wird. Dass sie sich verändern … aufhören, sie selbst zu sein … Das stimmt nicht!«

Die Fackel in seiner Hand zuckte.

»Ywha …«

»Ja?«

»Ist dir klar, wer du bist?«

»Nein, das kann nicht sein«, widersprach sie sofort. »Das ist unmöglich! Das wäre zu viel!«

Als er nach oben sah, folgte sie seinem Blick. Das Zeichen der Presse war fast vollständig unter einem Ornament aus Rissen verschwunden.

»Es hat mich irritiert«, bekannte sie schuldbewusst. »Aber … das heißt doch nichts. Es hat mich irritiert, da habe ich es zerstört. Was soll daran so bemerkenswert sein? Frisch initiierte Hexen sind nun mal stark. Aber ich bin ganz bestimmt bloß eine Hexe, eine ganz gewöhnliche Hexe, ich …«