Er war der Einzige, der sich nicht rührte. Versteinert stand er da, aufgespießt von ihrem starren Blick.
»Weg da, Priw! Geh ihr aus dem Weg!«
Lauter und lauter rief die Trommel. Der Himmel toste, über die Schalldecke gespannt. Diejenige, die jetzt die Straße hinunterschritt, nahm bloß ihr Recht wahr. Ihr unteilbares und gutes Recht.
Ohne langsamer zu werden, stieg sie über den Mann hinweg, der am Boden lag.
Eine Sekunde später — eine dünne Membran später, durchrissen von ihrem Körper — vergaß sie ihn, um sich nie wieder an ihn zu erinnern. Und nie stellte sie sich die Frage, ob er überlebt hatte.
Schwieriger als alles andere war es, aus der Stadt herauszukommen. In völliger Dunkelheit schlug er sich durch den Ort, umrundete Hindernisse und fuhr an Ruinen vorbei, während ihn der allgegenwärtige Rauch husten ließ. Der Geist, der sich nur mit dem Geruch des Schlachthofs vergleichen ließ, entfernte sich ein ums andere Mal, nur um sich sogleich wieder zu nähern. Der Graf hatte die gerade, fast freie Autobahn bereits erreicht, als Klawdi Starsh, der niemals raste, reinen Gewissens das Gaspedal durchtrat.
Rechts vor ihm loderte ein Gehöft. Die Flamme eines gigantischen Lagerfeuers griff nach dem Himmel, die Funken legten sich auf die Windschutzscheibe, wurden vom Wind gegen das Glas gepresst und glommen ein letztes Mal auf, bevor sie sich in schwarze Rußklumpen verwandelten. Das Feuermonster stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, den Bart vom Wind zerzaust, und folgte mit dem Blick dem einzigen Punkt, der sich auf der langen Straße bewegte, dem Graf nämlich, der dem Ungewissen entgegenfuhr. Klawdi bleckte die Zähne.
Die Welt existierte nicht länger. Nichts von dem, was er normalerweise als seine Umwelt bezeichnete, gab es hier noch. Alles, was ihm einst so vertraut, was so unerschütterlich gewesen war, war aus den Fugen geraten; über der Menschheit hing ein Strudel, eine schwarze Windhose, die sich wie in Zeitlupe drehte, und, erfasst von ihrer gewaltigen Anziehungskraft, flogen Gesetze und Verpflichtungen, Normen und Bräuche, lebende Kühe, Gebäudeteile, entwurzelte Bäume und aus den Gräbern gerissene Särge durch die Luft.
Weiter und weiter trat Klawdi das Gaspedal durch. Sobald er im Fernlicht ein Hindernis entdeckte — ein umgekipptes Auto, von Flüchtlingen zurückgelassenen Hausrat oder einen auf die Straße geschmierten Körper –, biss er knirschend die Zähne zusammen und verschmolz mit seinem Wagen, diesem gehorsamen und treuen Gefährt, das sich widerspruchslos auf jedes Manöver einließ …
Als er irgendwann begriff, dass er mehr und mehr von der Richtung abkam, bog er zur Seite. Eine brennende Tanksäule beleuchtete seinen Weg, ein in Flammen stehendes Dorf, ein in der Ferne niederbrennendes Waldstück. Durch die Feuerherde lavierend, kam er rasch auf eine andere Straße, einen Feldweg, wendete und trat noch einmal das Pedal durch.
Das Auto schlotterte. Das Auto stöhnte. Schon seit geraumer Zeit beunruhigte ihn ein stechender Blick. Er begriff nicht auf Anhieb, dass ihn da, ohne einmal zu blinzeln, der tief hängende, gelbe Mond anstierte.
Die Straße riss immer weiter auf, was ihn zwang, das Tempo zu drosseln, damit er sich nicht vor der Zeit das Genick brach. Aus den Trümmern eines Holzverschlags flatterte ein weißes Huhn auf und stürzte, offenbar um den Verstand gebracht, gegen die Windschutzscheibe, schlug mit den Flügeln, hackte mit dem Schnabel auf diese ein, ohne sich um die aufstiebenden Federn zu scheren, und glotzte den Mann, der hinterm Steuer erstarrt war, voller Hass an.
An einem Brunnen saß mit gesenktem Kopf ein Toter. Er stierte mit gallertartigem, reglosem Blick vor sich hin. Klawdi wandte den Kopf ab.
Eine halbe Stunde später brachte der aufgerissene Weg den Graf zu einer weiteren Autobahn. Klawdi glaubte sogar, sich an ihre Nummer zu erinnern. Der Geist der Mutterhexe war hier so klar und deutlich, dass Klawdi es sich gestattete anzuhalten.
Auf dem Beifahrersitz lagen kreuz und quer allerlei Karten. Zielsicher wählte er die einzige Militärkarte aus, die in nüchterne Planquadrate unterteilt war. Er breitete sie aus, schaltete das Licht ein und fand in dem Geflecht von Straßen auf Anhieb jene winzige Kreuzung, auf der sein verstaubter Graf gerade in aller Einsamkeit parkte.
Über die Schulter schaute ihm der tief hängende Mond in die Karte. Es hätte nicht viel gefehlt, und Klawdi hätte sie mit der Hand vor dem Himmelskörper abgeschirmt.
Der Inquisitor konzentrierte sich. Der Geist der Hexe, der satte Geruch des Todes drang durch die Scheibe und das Metall, doch die strategische Karte vermochte selbst dem stärksten Druck zu widerstehen. Schließlich war sie ebenfalls schrecklich, denn die Namen menschlicher Siedlungen fanden sich in solider Nachbarschaft von gleichgültigen Zeichen, die nicht bloß schlicht den Tod symbolisierten, sondern eine unausweichliche, unverzügliche, vollständige und durch nichts verdiente Zerstörung.
Mit stumpfem Blick auf die Karte schauend, gedachte der Großinquisitor Wyshnas schweigend Seiner Durchlaucht, des verstorbenen Herzogs.
Danach zog er aus der Innentasche seines Jacketts das kleine rechteckige Kästchen mit dem schmalen Display.
Wie sehr konnte er sich geirrt haben? Einen halben Kilometer? Einen ganzen? Fünf?
Würde Wyshna leiden?
Wer hielt sich noch dort auf, im Umkreis jenes Punktes, der mit einem hellgrauen Kreis markiert war, jenes Dorfes, unter dem in akkurater Kursivschrift »Podralzy« stand?
In einer Ecke des Displays blinkte ein Zeichen. Die Zentrale war einsatzbereit. Irgendwo tief unter der Erde, wohin der Blick dieses grausamen Mondes nicht reichte, saß ein übermüdeter Offizier mit Kopfhörern und wartete. Wartete ohne Ende.
Vielleicht wusste er noch nicht einmal, dass sein Oberbefehlshaber tot war? Doch selbst wenn er bereits davon Kenntnis erhalten hatte, spielte das keine Rolle, denn die Kriegsmaschinerie durfte nicht von einem einzigen Menschenleben abhängen.
Die Erde bebte. Oder bildete er sich das nur ein? Nein, jetzt bebte sie noch einmal, und der Geist der Mutterhexe gewann weiter an Kraft. Kurz nahm es Klawdi den Atem. Neben diesem Wesen waren alle Inquisitoren der Welt hilflos — selbst wenn sie sich zusammenschlössen oder es ihm gelänge, sich zum Anführer von allen aufzuschwingen und den Willen seiner Kollegen an den seinen zu koppeln.
Da brach er in ein Gelächter aus. In ein heiseres und tiefes, aber aufrichtiges Gelächter. Fast ohne Bitternis.
Podralzy. Woher nahm er die Gewissheit, dass sie sich in Podralzy befand? Eine überflüssige Frage, sein Geruchssinn hatte immer ausgereicht, einen Schlachthof zu orten. Auf einem anderen Blatt stand allerdings, dass er sich nie darum gerissen hatte, einen Schlachthof aufzusuchen; jetzt blieb ihm allerdings keine andere Wahl …
Podralzy. Der Ort, an dem sie initiiert worden war. Diese Hündinnen, die sie initiiert und in ihre Welt gezerrt hatten, die nun nicht mehr so war wie einst, während sie selbst, glaubte er denn ihren Worten, das Ganze heil überstanden hatte. Also trug die Welt die Schuld an allem! Diese Biester, diese Ungeheuer, warum hatten sie …?
Ohne nachzudenken, schätzte er völlig automatisch die Entfernung zwischen Podralzy und der grauen Kreuzung, auf der sein Graf parkte, ab. Fünf Kilometer. Was hatte der verstorbene Herzog noch gleich gesagt? »Sehen Sie zu, sich möglichst fern der Schusslinie zu halten.«
Im Grunde blieb ihm noch Zeit, mehr noch, er durfte sich Zeit nehmen, eine halbe Stunde vielleicht. Das Auto brachte es gut und gern auf zweihundert Stundenkilometer, die Straße war vorzüglich, da würde er ein gutes Stück von hier wegkommen, um sich in irgendeine Höhle zu verkriechen.